Gerade ist ein neues Buch von Prof. Dietrich Stollberg erschienen:
„Soll man das Glauben?: Vom Sinn der christlichen Religion“
Evangelische Verlagsanstalt, 2009, 421 S. (Buch bestellen)
Leseprobe aus Kapitel 20:
Versammlung bzw. Gemeinde kommt von lateinisch ,grex‘ = Herde. In der Tat ist die Selbstständigkeit der Gemeinden vergleichsweise gering, und alles Entscheidende wird – wer weiß, wie lange noch – zentral und ,von oben‘ aus dem Landeskirchenamt mit einem Bischof oder einer Bischöfin an der Spitze (seltener mit einem Vorsitzenden, ,Präses‘ oder ,Kirchenpräsident‘ genannt) geregelt, auch wenn landeskirchliche Synoden als eine Art Kirchenparlament über weiterreichende Fragen abstimmen. Dem liegt der fragwürdige Gedanke der flächendeckenden geistlichen Versorgung zugrunde. Versorgung produziert Versorgte, passive Empfänger einer Serviceleistung mit einem Anspruch auf Lieferung; schließlich wird (durch Kirchensteuern) pauschal dafür bezahlt. (Deshalb ärgern sich manche verständlicherweise auch darüber, dass in jedem Gottesdienst noch zusätzlich für Sonderzwecke gesammelt wird.)
Das Gegenmodell wäre die autonome Gemeinde, die nicht nur ihre Finanzen und Immobilien (vor allem die Kirchengebäude und Gemeinderäume) selber regelt, sondern auch ihre theologisch ausgebildeten und anderen Mitarbeiter sowie ihr Bekenntnis (ihre theologische Credo-Grundlage und die Form ihrer Gottesdienste, als Basis der Gemeinsamkeit) selbst bestimmt. Viel Geld und Energie geht derzeit noch in der Hierarchie des bürokratischen Apparats verloren. Ein übergeordneter Zusammenschluss wäre lediglich für theologische Supervision, die Ausbildung der Mitarbeiter und für die Repräsentation gemeinsamer Interessen nach außen, auch gegenüber anderen christlichen Kirchen, nötig. Von diesem Modell scheinen wir derzeit noch weit entfernt. Es könnte jedoch bei der raschen Entwicklung unserer Gesellschaft schneller notwendig werden, als uns lieb ist. Dabei muss ich gestehen: So unlieb wäre mir persönlich diese Entwicklung gar nicht, weil ich einen Teil meiner theologischen Ausbildung in den USA erlebt und dort die Vorteile und Freiheiten dieses Modells erlebt habe. Dass es auch Nachteile hat, ist selbstverständlich.
Zur Zeit werden von der kirchensoziologischen und praktisch-theologischen Wissenschaft hierzulande Mischformen zwischen konventioneller Institution, moderner Organisation und mehr oder weniger frei flottierender ,Bewegung‘ beobachtet. Das war natürlich schon immer so ähnlich: Sobald die Christenheit wuchs und sich zu einer Großreligion entwickelte, bedurfte es institutioneller ,Ämter‘ und Strukturen. Diese mussten organisiert und verwaltet werden. Das geschah mit den Mitteln und Einsichten der jeweiligen Zeit. Die Herrscher mischten bis in die Gegenwart aus politischem Kalkül und manchmal auch aus Frömmigkeit kräftig mit. Die Emanzipation der Kirche aus politisch bedingten Sozialgestalten ist keineswegs abgeschlossen. Eine einseitige Orientierung an modernen Organisationsmodellen würde die Kirche in Verwandtschaft zu einer Firma bringen. Diese Gefahr ist heute unverkennbar. Die technokratische Rede vom ,Management‘ und die Frömmigkeits- und Theologiefeindlichkeit, die ich vor allem mancherorts in der kirchlichen Sozialarbeit (Diakonie) beobachte, ist nur ein Beleg dafür. Kirche ist aber nicht in erster Linie eine Dienstleistungsfirma mit etwas religiösem Überbau (der sich meist in den Kasualien wie Taufe, Trauung und Beerdigung sowie in ,Andachten‘ als Randerscheinung sozialer Dienste der Kirche zeigt), sondern primär Anbetungsgemeinschaft der Gläubigen. Dass diese dann auch ,gute Werke‘ tun, wie Luther das genannt hat, ist nützlich und hilfreich, folgt aber erst aus dem Primären. „Eins aber ist not: Maria hat das gute Teil erwählt. Das soll nicht von ihr genommen werden.“ (Lk. 10, 42) Das sagt Jesus der hyperaktiven Martha, die das Schaffen und Helfen — für den Gast wohlgemerkt! — vor das Hören und Bewundern stellt.
Andererseits wäre es eine unrealistische Schwärmerei, die Kirche nur als eine vom Heiligen Geist geleitete Frömmigkeitsbewegung zu beschreiben und klare Organisationsstrukturen abzulehnen. Die derzeitigen Landeskirchen sind kein schlechter Kompromiss, solange ihr institutioneller Charakter nicht in Organisationsstrukturen umkippt, die zum Selbstzweck werden und allzu viele Reibungsverluste auf ihren Verwaltungswegen produzieren. Ich denke, ein Abspecken des kirchlichen Apparats täte gut, und die eindeutige Priorität der theologischen und seelsorgepraktischen Betreuung der Gemeinden einschließlich ihrer Seelsorgerinnen und Seelsorger durch praktisch-theologisch kompetente Bischöfe wäre hilfreich. Der Weg geht, das zeigt sich schon heute, weg von der so genannten Betreuungskirche hin zur Beteiligungskirche: Wo Gemeinden ihr gemeinsames Leben und Handeln weitgehend selbst bestimmen können und organisieren – das heißt auch: finanzieren – müssen, werden sie aus Gruppen passiver und gleichgültiger Fürsorgeempfänger zu aktiv Mitwirkenden und Mitverantwortlichen. …
Fasse ich zusammen, so ergibt sich:
Die Gemeinschaft der Kirche ist nicht dazu da, permanent zu predigen, auch wenn sie gar nichts zu sagen hat. Sie ist die Gemeinschaft derer, die vertrauensvoll und im Bewusstsein ihrer von Gott vergebenen Sünden, Gott dankbar verehren und anbeten. Sie tun das im Gottesdienst mit ,Wort und Sakrament‘. Von der ersten, sehr kleinen Gemeinde in Jerusalem heißt es (Apg. 2, 41 – 47): Sie ließen sich taufen und blieben beständig in der Unterweisung durch die Apostel, pflegten die Gemeinschaft, brachen das Brot miteinander (man nimmt an, es sei schon eine frühe Form des Abendmahls gemeint) und beteten gemeinsam. Sie lebten auch in einer Art Kommune und teilten allen Besitz. Sie waren täglich im (damals noch stehenden) Tempel, betrachteten sich also durchaus als fromme Juden, und feierten Abendmahl und Mahlzeiten in den Häusern der Mitglieder. Wir können jene sehr persönlich und freundschaftlich geprägten Verhältnisse nicht ohne weiteres auf unsere Situation übertragen, jedoch sehen, was den allerersten Christen wichtig war. Ich bin darauf gespannt, ob ich noch etwas von der positiven Entwicklung aus der anonymen Volkskirche in eine Gemeindekirche erleben werde.