Lasst die Kirche im Dorf! – mit lutherischem Profil und geistlicher Konzentration

Ich bete wahrlich mit Fleiß für Dich, und es tut mir weh, dass Du unverbesserlicher Sorgen-Blutegel meine Gebete so vergeblich machst. Ich wenigstens bin, was die Sache (des Glaubens) angeht – ob es Dummheit ist oder der Geist, mag Christus sehen – nicht sonderlich beunruhigt, vielmehr besserer Hoffnung, als ich zu sein gehofft hatte. (Luther an Melanchthon)

Von Prof. Dr. Christian Möller, Heidelberg

Vortrag vor den Kirchenvorsteherinnen und Kirchenvorstehern des Dekanats Gunzenhausen in Mittelfranken am 20.11.2017.

In kurzer Zeit bin ich jetzt dreimal nach Mittelfranken eingeladen worden:

Am 16. Oktober in die Sauerkrautstadt Merkendorf, um über Martin Luther zu sprechen. Ich kann Ihnen aber versichern, dass ich dort keinen Vortrag über „Luther und das Sauerkraut“ gehalten habe, wie es im Lutherjahr 2017 üblich war: „Luther und das Wittenbergisch Bier“, „Luther bei Tisch“ oder „Luther und das Apfelbäumchen“ usw. Nein, ich habe über „Luther als Seelsorger“ gesprochen, um das Bild eines leisen Luthers in Erinnerung zu rufen, der dem Menschen dazu hilft, für seine eigene Seele zu sorgen, damit er vor Gottes Gericht bestehen könne. Die lauten Töne habe ich an diesem Abend dem großen Merkendorfer Posaunenchor überlassen, der uns mit kräftigen Tönen zum Singen von Lutherliedern eingestimmt hat, während zum Schluss eine junge Maid vom alten Posaunenchorleiter erstmals die Leitung des Posaunenchors übertragen bekam; sie hat es, zwar aufgeregt, aber sehr gut gemacht. Ich aber bekam als Referent zwei Konserven Sauerkraut mit auf die Reise,  die ich in unserer Heidelberger Vorratskammer wohl verwahrt habe, um sie zu Weihnachten zu öffnen, wenn es wieder Schlesische Weißwürste gibt – und dazu Merkendorfer Sauerkraut – lecker!

Am 4. November bin ich nach Mönchsroth in das Dekanat Dinkelsbühl eingeladen worden, um dort in der Klosterkirche am Samstagabend bei einem Reformationsgottesdienst über „Luther und seine Lieder“ eine Lied – Predigt zu halten. Chor und Orchester waren aus Würzburg angereist, um ihr Konzertprogramm in einem mittelfränkischen Gottesdienst schon mal zu erproben. Und siehe, es wurde ein wunderschöner Gottesdienst in einer gut gefüllten Kirche. Auch der Dekan war aus Dinkelsbühl herbeigekommen. Und doch gab es an diesem Abend noch eine Hintergrundmusik der besonderen Art: Der Gemeinderat hatte einige Wochen zuvor die Bürgermeisterin von Mönchsroth mit 20 Kritikpunkten zum Rücktritt genötigt und hatte einen neuen Kandidaten für die Bürgermeisterwahl am 5.11. aufgestellt. Doch auch die abgewählte Bürgermeisterin hatte sich wieder zur Neuwahl gestellt. Und sie saßen alle miteinander am Samstagabend in jenem Reformationsgottesdienst an ganz verschiedenen Stellen in der Klosterkirche. Man spürte förmlich die Ruhe vor dem Wahl-Sturm am Sonntag. Der Ortspfarrer verabschiedete am Ausgang alle, auch die abgewählte Bürgermeisterin, und wünschte ihr für diese Nacht einen ruhigen Schlaf. Was bekomme ich in Heidelberg am Montag früh zu hören? Sie, die abgewählte Bürgermeisterin,  ist am Sonntag mit 67% wiedergewählt worden, und der  Gemeinderat hat gleich verkündet, dass er sich Mühe geben will, mit ihr wieder zusammenzuarbeiten. Das ist Franken – wie es leibt und lebt! Vital, stur, unabhängig!

Nun bin ich gespannt, wie es heute in Gunzenhausen mit Ihnen, den Kirchenvorstehern und Kirchenvorsteherinnen des Dekanats wird! Vielleicht denkt ja der eine oder die andere unter Ihnen schon insgeheim: Warum redet der so lang von Merkendorf und Mönchsroth? Der soll endlich zu seinem Thema in Gunzenhausen kommen: „Lasst die Kirche im Dorf!“ Ich antworte darauf: Meine Damen und Herren, ich bin ja schon mitten im Thema drin! Denn so ist das, wenn die Kirche mitten im Dorf steht: Dann gehören Posaunenchor und Sauerkraut, dann gehören die um ihre Wahl zitternde Bürgermeisterin  mit dem Lied „Ein feste Burg ist unser Gott!“ zusammen, das wir natürlich im Gottesdienst auch gesungen haben.  Alles ist ein großer, wohl unterschiedener Zusammenhang, und die Kirche ist mittendrin.

Kirche mitten in der Welt, aber nicht von der Welt

Die Kirche ist mitten im Dorf, und ist zugleich nicht mitten drin, weil sie Kirche mitten in der Welt ist, aber nicht von der Welt ist. Das wird in Merkendorf am ehesten an dem hohen Kirchenturm deutlich, der zum Himmel weist und mit den Glocken zwei- oder dreimal am Tag der Stadt von einer Gnade kündet, die niemand verdient hat. Und in Mönchsroth bietet der Gottesdienst mit seinem Evangelium, mit den Liedern und Gebeten dem in sich zerstrittenen und gespannten Dorf eine Versöhnung um Gottes willen an, die auch niemand verdient hat und doch alle zusammenhält, die Anwesenden mit den Abwesenden, die Linken mit den Rechten, die Lebenden mit den Toten. Dieses zweifache Wesen der Kirche will bedacht sein, wenn wir von der Kirche mitten im Dorf reden.

Am prägnantesten kam diese doppelte Gestalt der Kirche vielleicht zum Ausdruck, als sich die evangelische Kirche in den Zeiten der DDR nannte: „Wir sind Kirche mitten im Sozialismus, aber nicht Kirche vom Sozialismus“. Diese Spannung gab der Kirche die Freiheit, mitten im Sozialismus von einem Frieden Gottes in Montagsgebeten zu künden, der höher ist als alle sozialistische Vernunft. Was bemerkte daraufhin ein Mitglied des Politbüros der SED im Rückblick auf die Zeit der friedlichen Wende? „Wir haben mit allem gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten!“ (Horst Sindermann).

Ein Ruf nach der Kirche

„Lasst die Kirche im Dorf!“ – das kann freilich auch ein sehr schmerzhafter Ruf sein, wie ich an einer kurzen Geschichte des russischen Schriftstellers A. Solschenizyn aus den 50er Jahren verdeutlichen will: „Am Oka-Fluß entlang“.

„Wer die Dörfer Zentralrußlands durchwandert, findet den Schlüssel zur Friedsamkeit der russischen Land­schaft. Es sind die Kirchen. Sie gleichen weißen und roten Prinzessinnen, die hügelan eilten, Höhen bestiegen und an das Ufer der breiten Ströme traten, ge­schmückt mit schlanken, spitzen, vielfältigen Glockentürmen, die sich über die Strohdächer und Holzhütten des Alltags erheben. Sie nicken einander von weitem zu. Aus verstreuten Ortschaften, die für einander unsichtbar bleiben, erheben sie sich zum gleichen Himmel! Und wo du auch durch Feld oder Wiesen streifen magst – weit von menschlichen Behausungen – bist du doch nie allein: Jenseits der Wand des Waldes und aufgetürmter Heuschober, über die Wölbung der Erde hinweg, lockt dich immer die Spitze eins Türmchens, sei es aus Gorki Lowezkije, sei es aus Ljubitschi oder aus Gawriloskoje.

Beim Betreten des Dorfes jedoch erfährst du, dass nicht Lebende, sondern Erschlagene dich von weitem grüßten. Die Kreuze sind längst zerschlagen oder schief, aus der zerstörten klaffenden Kuppel ragen die Stümpfe des verrosteten Gerüstes. Auf den Dä­chern und in den Mauerritzen wuchert Unkraut. Kaum ein Friedhof ist noch rings um die Kirche erhalten. Meist sind die Kreuze umgestoßen, die Gräber zer­wühlt. Die Altarbilder – vom Regen der Jahrzehnte verwaschen – sind mit schamlosen Aufschriften ver­schmiert.

Dicht vor der Kirchentür stehen Fässer mit Dieselöl. In ihre Richtung wendet ein Traktor. Dort wieder fährt ein Lastwagen zum Tor der Kirchenvorhalle hinein und wird mit Säcken beladen. In einer dritten Kirche dröhnen Werkzeugmaschinen. Eine andere ist abgeschlossen – stumm. Noch eine und wieder eine andere sind zu Klubs geworden. „Lasst uns hohe Milcher­träge erzielen!“, „Die Dichtung vom Frieden“, „Große Ruhmestat“.

Immer waren die Menschen selbstsüchtig und oft wenig gut. Aber das Abendläuten erklang, schwebte über dem Dorf, über den Feldern, über dem Wald. Es mahnte, die unbedeutenden, irdischen Dinge abzulegen, Zeit und Gedanken der Ewigkeit zu widmen. Dieses Läuten, das nur noch in einem alten Lied erhalten ist, be­wahrte die Menschen davor, zu vierbeinigen Kreaturen zu werden. In diese Steine, in diese Glockentürme legten unsere Ahnen ihr Bestes, die ganze Erkenntnis eines Lebens.

So wühl doch, Witjka! Hack nur zu! Hab keine Beden­ken!

Das Kino fängt um sechs Uhr an, der Tanz um acht.“

Da sind sie wieder, die Glockentürme, „in die unsere Ahnen ihr Bestes, die ganze Erkenntnis eines Lebens, legten“. Da ist es wieder, „das Abendläuten, das über dem Dorf, über den Feldern, über dem Wald schwebte“. Aber nun ist es verstummt. Die Kirchen ist zwar noch im Dorf, aber nunmehr geschlossen oder zu Werkzeugschuppen umfunktioniert. Und die Menschen sind zu Arbeitstieren geworden und ab acht Uhr zu Tanzaffen in einem sinnlosen Karussell von Kino, Tanz und Arbeit. So kann es gehen, wenn ein System über die Menschen hinweg rollt, sie alle gleich macht und platt, die Kirchentürme ebenso wie die Grabkreuze, die Ewigkeit ebenso wie die Zeit. Was statt der Glocken im Dorf blieb, waren die Sirenen und die Lautsprecher und  der Traktorenlärm.

Von Ewigkeit zu Ewigkeit

Als ich 1959 an einer Reise der Deutschen Friedensunion in die Sowjetunion teilnahm und durch Moskau und Leningrad zog, sah ich solche Kirchen, die mit Brettern und Balken versperrt waren und kurz vor dem Abriss standen. Chrustschow, der 1. Parteisekretär der KPDSU, hatte gerade verkündet, dass es mit der Kirche in der Sowjetunion bald vorbei sein werde. Es seien nur noch zwei oder drei oder vier Babuschkas in den Kirchen, und die würden bald aussterben. Tatsächlich traf ich solche Kirchen, in denen wenige alte Frauen in dunklen Ecken knieten und beteten.  Ein Priester hastete an ihnen vorbei, aber ich konnte ihn, zusammen mit einer Dolmetscherin, gerade noch anhalten und fragen, ob denn hier noch Gottesdienste stattfänden. Natürlich, sagte er. Ob denn Leute dazu kämen, fragte ich weiter. Er zuckte mit den Schultern und meinte: Ach, manchmal kommt keiner, aber das ist für uns Orthodoxe nicht so schlimm. Wieso? wollte ich wissen. Nun, gab er zur Antwort, wenn ich den Gottesdienst „im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes feiere, bin ich ja gar nicht mehr allein, sondern zu viert. Dann kommen noch die Heiligen an der Ikonostase dazu, die uns anblicken, und die Cherubim und die Seraphim sind auch da, wenn wir sie anrufen. Da ist die Kirche ja schon gut gefüllt. Aber natürlich freuen wir uns über jeden, der noch dazu kommt und mitfeiert. Wir feiern ja die göttliche Liturgie „von Ewigkeit zu Ewigkeit“. In diesem Zeitraum ist der Kommunismus nur eine kurze Zeiterscheinung, die kommt und wieder geht.“

Ich verließ diese Kirche sehr nachdenklich und verglich sie mit unserer Evangelischen Kirche, die von Modeerscheinung zu Modererscheinung hastet, um ja nicht unzeitgemäß zu erscheinen. Doch eben dadurch verliert sie den Rhythmus der Zeit, der ihr durch die Liturgie vorgegeben ist: „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Die Ewigkeit ist ja das Geheimnis der Zeit. Wer die Ewigkeit verliert, der verpasst auch die Zeit, weil er nicht mehr weiß, was an der Zeit ist.  Die Orthodoxe Kirche in Russland ist jetzt wieder an der Zeit, und man muss früh zur Kirche aufbrechen, wenn man noch einen Stehplatz finden will, um die göttliche Liturgie mitzufeiern.

Die Evangelische Kirche in Deutschland aber sucht noch, was für sie jetzt nach dem Lutherjubiläum an der Zeit ist, und wie sie zeitgemäß in einer digital gehetzten Zeit werden kann. Ob vielleicht auch für unsere Kirche gilt, dass sie  nur dann zeitgemäß wird, wenn sie der Ewigkeit als dem Geheimnis der Zeit auf die Spur kommt? Wo aber findet sich die Ewigkeit? Wo verbirgt sie sich? Meine Antwort ist vielleicht überraschend: Die Ewigkeit verbirgt sich bei den Toten, und von dort aus kommt sie immer wieder neu auf uns im Leben zu, wenn wir uns Zeit für sie nehmen.

Zeit für die Toten

Das will ich an einem Beispiel wiederum aus einem fränkischen Dorf erläutern: War es bei einem vorbereitenden Gespräch für eine Beerdigung, oder war es bei einer Kirchenvorstandssitzung oder sonst bei einer Gelegenheit, jedenfalls kam der Seufzer auf: Ach, wenn es doch wieder, wie früher, die Aussegnung des Toten in seinem Wohnhaus oder auf seinem Hof gäbe! Der Pfarrer nahm diesen Seufzer auf und regte in der nächsten Kirchenvorstandssitzung an,  man könne es ja mal mit der häuslichen Aussegnung wieder versuchen und sie im Kirchenblatt anbieten. Mal sehen, ob dieses Angebot auf Nachfrage stößt. Und siehe, 95 % aller Angehörigen wünschten sich ab sofort wieder eine Aussegnung im Hause. Dafür schafften sie sogar die im Krankenhaus Verstorbenen wieder nach Haus, damit sie dort ausgesegnet würden, wo sie gelebt haben. Ebenso natürlich wie die Aussegnung schloss sich daran nun auch wieder eine Prozession mit dem Verstorbenen durch das Dorf zur Kirche an, wofür auch die Dorfpolizei gewonnen werden konnte, damit sie die Straße für die Autofahrer eine halbe Stunde sperrte. Der Sarg mit dem Verstorbenen wird dann in der Kirche vor den Altar getragen und die Trauergemeinde nimmt gottesdienstlich von dem Toten Abschied, betet, singt und hört Gottes Wort von der Auferstehung angesichts des Todes. Anschließend geht es hinaus auf den Friedhof, wo nun die endgültige Aussegnung des Toten und die Einsenkung ins Grab mit dem Segen des Dreieinigen Gottes stattfindet. Die nunmehr erschütterte und hoffentlich getröstete, auf jeden Fall aber verfrorene Trauergemeinde eilt nun einer Gastwirtschaft zu, wo schon der heiße Kaffee und der notorische Streuselkuchen auf den Tischen wartet, vielleicht noch ein wärmender Korn dabei. Kurz: Es sind nunmehr also vier Stationen, die eine Beerdigung umfasst: 1. Die Aussegnung im Hause; 2. Die gottesdienstliche Feier der Auferstehung; 3. Die Aussegnung am Grab und 4. Der Leichenschmaus.

Als mir der Pfarrer jenes fränkischen Dorfes diese lange Prozedur schilderte, seufzte ich auf: „Das dauert ja eine Ewigkeit!“ Eben, meinte der Pfarrer, eine Ewigkeit! Da haben wir sie auch wieder im Dorf als das Geheimnis der Zeit entdeckt. Die 2 oder gar 3 Stunden, die so eine Beerdigung jetzt dauert, bringen uns so intensiv wieder im Dorf zusammen wie kaum etwas anderes. Es ist, als ob die Kirche dann wieder im Dorf ist: Verabredungen werden beim Leichenschmaus getroffen, Hilfsangebote gemacht,  vergessene Menschen tauchen in Gesprächen wieder auf. Und am kommenden Sonntag kommen noch einmal viele zum Gottesdienst, um für den Verstorbene und seine Angehörigen öffentlich zu beten.

Natürlich weiß ich, dass so eine Beerdigung mit vier Stationen nicht überall stattfinden kann, am wenigsten wohl in Großstädten, am ehesten in überschaubaren Dörfern und Kleinstädten. Doch ebenso weiß ich, dass der Umgang mit den Toten an vielen Stellen nur noch einer Entsorgung gleicht, einem Wegschütten und Wegkippen der sterblichen Überreste, die möglichst rasch unter die Erde gebracht werden. „Machen Sie`s kurz, Herr Pfarrer!“, lautet häufig der erste Satz eines Beerdigungsgespräches. Und der Pfarrer, der auf diesen Wunsch mit einer Rips-Raps-Beerdigung eingeht, ahnt wohl nicht, dass nun der Trauerprozess für die Angehörigen um so länger wird. Denn Tote lassen sich nicht so schnell entsorgen. Sie kommen dann auf verborgenen Pfaden wieder ins Leben der Angehörigen zurück, mal in Gestalt eines Alptraumes, mal in Gestalt von bösen Gedanken, mal in Gestalt von Hetze und Verzettelung. Vielleicht ist das ja überhaupt die Rache der Toten, dass sie, die hastig weggekippt wurden, nun auch unser Leben immer hastiger und eiliger machen, so dass die Zeitnot das Merkmal unserer Zeit geworden ist, weil uns die Ewigkeit abhanden gekommen ist. Schon 1968 beschrieb der russische Dichter Jewtuschenko diese Zeitnot eindrücklich in der Moskauer Prawda:

In Zeitnot geraten
Wie in ein Netz
Ist der Mensch.
Atemlos hetzt er durch sein Leben
Und wischt sich den Schweiß.
Ein Fluch des Jahrhunderts ist diese Eile.
Es wird ganz eilig gezecht
Und ganz eilig geliebt.
Ganz tief sinkt die Seele dabei;
Man martert ganz eilig,
vernichtet ganz eilig,
ganz eilig sind später Reue und Buße vorbei.

Halt ein,
bleib doch stehen,
der du wie auf Laub über Gesichter stampfst
und sie nicht ansiehst.
Blind bist du, ganz blind,
durch den Irrsinn der Eile.
Töte nicht durch sie deine einzige Chance,
jetzt inne zu halten,
halt ein,
bleib doch stehen,
du hast Gott vergessen
und schreitest ja über dich selbst hinweg.

Was für ein nachdenkenswerter Schluss: „Du hast Gott vergessen und schreitest ja über dich selbst hinweg“ – und das 1968 in der Prawda, dem Organ der Kommunistischen Partei Russlands!

Doch ich will nicht bei der Klage bleiben, schon gar nicht bei der Anklage. Das besorgen die Toten schon selbst zur Genüge, übrigens auch die Toten, die, auf Gefallenendenkmälern geschrieben, an Kirchenwänden hingen, dort aber irgendwo ins Abseits geschafft wurden, weil die Kirche ja nichts mit „Heldengedenken“ zu tun habe. In einer Kirche, wo das geschah, bemerkten erst die Kirchenvorsteher und dann auch der Pfarrer, dass die noch im Dorf lebenden Angehörigen dieser Gefallenen alsbald nicht mehr zur Kirche kamen, dann bald die ganze Nachbarschaft nicht mehr und schließlich fast das ganze Dorf nicht mehr, als wollten sie zum Ausdruck bringen: Schafft ihr unsere Toten aus der Kirche raus, dann gehen wir Lebenden auch. So kann die Kirche aus einem Dorf verschwinden, obwohl sie als Gebäude noch da steht.

„Es ist noch eine Ruhe vorhanden …“

Gibt es Abhilfe? Ja, es gibt sie im Zeichen jenes Wortes aus Hebr. 4: „Es ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volk Gottes“! Für die Gestaltung solcher Ruhe sorgen so manche Pfarrer und Pfarrerinnen, z.B. jener Pfarrer, der sich bei einer Beerdigung in gar keiner Weise davon irritieren ließ, dass keiner mehr mitsang, weil alle in ihrem Glauben an die Auferstehung verstummt waren. Da kehrte sich der Pfarrer zum Sarg um und sang dem Toten deutlich und laut zu: „Christ ist erstanden von der Marter alle …“, und am Ende summten sogar einige wieder mit.

Oder jene Kirchenvorsteherinnen, die ein Auge auf den Friedhof werfen, damit er ein Ort der Begegnung werde, am Samstag etwa, wenn so viele mit ihrer Kanne kommen, um die Gräber zu begießen. Dass dann Bänke da sind, wo sich müde Menschen setzen und vielleicht sogar ein Schwätzchen miteinander beginnen können. Und dass die Friedhofskirche offen ist, vielleicht sogar ein bisschen beheizt, damit man sich aufwärmen kann.

Oder jener Rentner, der in seinem Ruhestand ein Hüter der Stadtkirche geworden ist, weil er sie morgens und abends auf- und abschließt, damit sie tagsüber für neugierige Gäste geöffnet sei, aber auch für solche, die sich mit ihrem Gebet in die Kirche flüchten wollen, weil sie hier dem lieben Gott näher auf die Pelle rücken können als in ihrem öden Haus.

So gäbe es jetzt noch Beispiele über Beispiele dafür, wie die Kirche im Dorf gelassen oder wieder zurück ins Dorf  geholt werden kann, wenn nur ein wenig Aufmerksamkeit für das Nächstliegende und nahezu Selbstverständliche da ist.

Lutherisches Profil und geistliche Konzentration

Ich will jetzt noch versuchen, den angestimmten Ruf „Lasst die Kirche im Dorf“ mit dem Thema zu verbinden, das die Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Bayern, die 2017 in Coburg tagte, den Gemeinden und Dekanatssynoden zur Beratung über den zukünftigen Weg der Kirche  ans Herz gelegt hat: „Profil und Konzentration“. In einer lutherischen Landeskirche, zumal im Reformationsjahr 2017, kann dieses Thema  konkret ja nur heißen: „Lutherisches Profil und geistliche Konzentration“. Der Ruf für den zukünftigen Weg der Kirche lautet dann ein wenig ausführlicher: „Lasst die Kirche mit lutherischem Profil und geistlicher Konzentration im Dorf, damit sie nächstliegende Schritte in die Zukunft geht!“

Was heißt das? Die Synode gab für ihr Thema einen „strategischen Hauptleitsatz“, der zwei Teile hat:

„Lutherisches Profil“

1. „Die Evangelisch-Lutherische Kirche von Bayern gibt Zeugnis von der Liebe des menschgewordenen Gottes.“ Martin Luther gab in seiner Heidelberger Disputation von 1518 ein anschauliches „Zeugnis von der  Liebe des menschgewordenen Gottes“, wenn er in der letzten seiner 28. theologischen Thesen die „Liebe des menschgewordenen Gottes“ von der Liebe der Menschen in folgender Weise unterscheidet: „Die Liebe Gottes macht dich liebenswert, die Liebe von Menschen wird von Liebenswertem angezogen“.

Diese These fügt die Verhältnisse in einem Dorf, in einer Stadt, in einem Gemeinwesen völlig neu zueinander: Während es nicht nur üblich, sondern auch unter Menschen natürlich ist, sich dem Liebenswerten zuzuwenden und deshalb auch selbst gern liebenswert zu sein – und das heißt konkret: „Gleich und gleich gesellt sich gern“ – gibt es von Gott her „eine menschgewordene Liebe“, die den Menschen liebenswert macht, auch wenn er von Haus aus in den Augen anderer Menschen gar nicht liebenswert ist. Das sprengt die Grenzen der Gesinnungs- und Sympathiekreise unter Menschen auf. Es rückt Menschen in ein völlig neues Licht. Auch die manchmal engen Grenzen unter Menschen können  weit geöffnet werden, wenn im Licht von Gottes Liebe Menschen liebenswert werden, die nach den natürlichen Umständen eigentlich gar nicht liebenswert sind. Genau deshalb steht ja auch die Kirche mit ihrem Kirchturm im Dorf oder in der Stadt, um die üblichen Grenzziehungen unter Menschen noch einmal neu im Licht von Gottes Liebe zu vermessen und die Augen für die Überraschungen offenzuhalten, die dann in den Blick kommen.

Nehmen wir z.B. die Ehebrecherin, die vor Jesus geschleppt wird von Menschen, die die Steine schon in der Hand haben, um sie nach den gewohnten Gesetzen zu steinigen. Wie sieht er sie im Licht von Gottes Liebe? „Wenn einer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ Da fallen die Steine aus der Hand und die Menschen gehen ihrer Wege,  weil sie auf befreiende Weise Sünder geworden sind. So sieht das konkret aus, wenn ein Mensch im Licht von Gottes Liebe liebenswert gemacht worden ist, der es von Haus aus gar nicht mehr ist. Luther kommentiert seine These: „Die Sünder werden nicht geliebt, weil sie schön sind; aber sie werden schön, weil sie geliebt werden.“ Da bricht vieles auf, was sonst unter der Decke gehalten wird, unter der nur geliebt wird, was liebenswert ist. Die Kirche macht unter dieser Voraussetzung geradezu weltweit.

Geistliche Konzentration“

2. Der zweite Teil des „strategischen Hauptleitsatzes“ von „Profil und Konzentration“ lautet: „Die Evangelisch-Lutherische Kirche Bayerns orientiert sich am Auftrag der Heiligen Schrift und organisiert ihre Arbeitsthemen und ihren Ressourceneinsatz konsequent auf das Ziel hin, Menschen mit ihren heutigen Lebensfragen einen niederschwelligen Zugang zu dieser Liebe zu eröffnen“. Wie könnte diese Aufgabe mit „geistlicher Konzentration“ angegangen werden? Ich will es zunächst am Beispiel von drei Pfarrern aus England deutlich machen, die sich in ihrer Arbeit mit den Gemeinden zu „geistlicher Konzentration“ entschlossen haben, indem sie ihr Vertrauen zur Gegenwart des Heiligen Geistes in praktische Arbeit umzusetzen versuchten:

„Die härteste und zugleich erfreulichste Sache, die wir (sc. Pfarrer) lernen müssen, ist die nahezu verloren gegangene Wahrheit, dass wir dem Heiligen Geist vertrauen dürfen. Er will die Gemeinde Jesu bauen, wenn wir ihm Raum geben, das tun zu können, was nur er für uns tun kann. Als Pastoren von Our Heritage stellten wir eine ziemlich drastische Regel auf, als wir mit dem Versuch begannen, selbst aus dem Weg zu gehen und den Geist wirken zu lassen: Alles aus dem Gemeindeprogramm, was nicht ohne ständigen Druck des Pastors aufrechterhalten werden kann, sollte eines natürlichen Todes sterben. Innerhalb von zwei Monaten starben drei Chöre. Ähnlich erging es der Mittwochstunde und mehreren Komitees. Innerhalb von 18 Monaten war der Frauenkreis verschwunden. Von allen geschäftlichen Sitzungen blieb nur noch die monatliche Vorstandssitzung. Als wir mit neuen Gedanken und Programmen kamen, hatten wir eine solche Entwicklung beabsichtigt. Einige unsere Vorstellungen waren erfolgreich. Viele überstanden nicht einmal die erste Sitzung. Wir haben uns ehrlich bemüht, an dem Grundsatz festzuhalten: Falls Gott es nicht tut, werden wir nicht versuchen, etwas durchzusetzen. Heute überrascht es unsere Gemeinde nicht mehr, wenn der Pastor bekannt gibt, dass sein Vorschlag nicht durchführbar sei, weil der Heilige Geist sich nicht dafür interessiert habe. Aber so schmerzlich es auch sein mag, für den Pastor ist es besser, Ansehen zu verlieren, als es auf Kosten nutzlos verbrauchter Zeit zu erhalten, nur um etwas zu schaffen, was sich am Ende doch als Holz, Heu und Stroh erweist (…) Mein überaktives Gewissen sagte mir, ich sei ein Drückeberger. Einige Leute hatten diesen Gedanken auch. „Warte!“ schien aber das Signal von der göttlichen Befehlsstelle zu sein. „Vertraue mir!“, war die Botschaft. Langsam lernte ich, zur Ruhe zu kommen, zu vertrauen, zu warten.“ [1]

Zuerst fragte ich mich angesichts dieses Berichtes: Ist etwa der Heilige Geist ein Ersatz für unsere Tätigkeit? Natürlich nicht! Meine Tätigkeit bekommt nur im Spitzen der Ohren auf das, was Gott mir in der Kraft seines Geistes sagen will, eine neue Qualität. Es ist dann etwa so wie bei einem Schwimmer, dessen Schwimmbewegungen eine neue Qualität bekommen, wenn er der Tragkraft des Wassers vertrauen lernt, während der Anfänger, der die Tragkraft des Wassers noch nicht erfahren hat, ganz jämmerliche Verrenkungen macht, weil er meint, er müsse sich aus eigener Kraft über Wasser halten und sich verzweifelt fragt: Wie lange schaff ich das noch? Diese Pfarrer aus „Our heritage“ haben in dem Moment ein geschärftes Ohr für das gewonnen, was Gott ihnen jetzt sagen will, als sie ihr sinnloses Werkeln einstellten, mit dem sie zuerst auf sich selbst und dann auf die Gemeinde Druck ausübten, nur damit irgendetwas läuft, irgendeine Betriebsamkeit vor dem eigenen überaktiven Gewissen demonstriert werden kann, eine Routine für die Gemeinde aufrecht erhalten werden kann. Und siehe da, als dieses sinnlose Werkeln, diese ungeistliche Gschaftlhuberei eingestellt wurde, gingen die Ohren für die „Signale von der göttlichen Befehlsstelle“ langsam auf: „Langsam lernte ich, zur Ruhe zu kommen, zu vertrauen, zu warten“.

„Geistliche Konzentration“ hilft der Kirche wie den einzelnen Gemeinden dazu, sich auf diejenige Aufgabe zu konzentrieren, die von ihr jetzt angepackt werden muss. Geistliche Konzentration hilft aber auch, die Aufgaben abzuwehren und sich den Aufregungen zu verweigern, die jetzt nicht an der Zeit sind. „Lasst die Kirche im Dorf“ – dieser Ruf  spitzt  sich nun auf die Frage zu: Was ist jetzt der nächstliegende Schritt, den wir in geistlicher Konzentration zu tun haben? Dafür braucht es auch das geschwisterliche Gespräch unter Kirchenvorstehern und Pfarrern. Es braucht das Gebet, das Gottes Rat um Hilfe anruft. Es braucht das geistliche Zuwarten. Es braucht das Hören auf die Heilige Schrift. Das alles wird nunmehr gleichsam das Vorzeichen für den Umgang mit der täglichen Plage, die es natürlich auch in der Kirche zu Hauf gibt: Einen Haushalt erstellen, Briefe schreiben, Mails erledigen, Predigt vorbereiten, Gebete verfassen, Gefangene besuchen, Jugendliche begleiten und Menschen auf der Straße freundlich grüßen oder mit ihnen ein Schwätzchen halten.

Zieht nun aber in diesen Umgang mit der täglichen Plage auf irgendeine Weise die „Sorge um den morgigen Tag“ ein, dann kann es sehr, sehr schwer werden im Amt eines Kirchenvorstehers oder einer Kirchenvorsteherin, im Amt von Pfarrer oder Pfarrerin oder gar im Amt eines Dekans, weil die Sorge den Blick in die Ferne zieht, so dass die tägliche Plage mit ihrem Gewicht bleiern schwer wird und die Kräfte aus diesem Tag abgezogen werden. Wie kann dann Jesu Gebot aus der Bergpredigt eingeübt werden: „Sorget nicht für den morgigen Tag. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage habe“ (Matth 6, 34)?

Dann braucht es „Seelsorge an einer zersorgten Seele“, wie sie Martin Luther an seinem Mitstreiter Philipp Melanchthon übt, der sich Sorgen um die evangelische Sache beim Reichstag in Augsburg macht und über diesen Sorgen das Nächstliegende aus dem Auge verliert. Deshalb ruft ihn Luther auf der Coburg in einem Brief vom 27.Juni 1530  wieder zu seiner täglichen Aufgabe zurück:

„An Philipp Melanchthon, den geliebtesten Schüler Christi und Christophorus. Gnade und Frieden in Christo, in Christo sage ich, nicht in der Welt. Amen. (…)

Deine elenden Sorgen, von denen Du, wie Du schreibst, verzehrt wirst, hasse ich von Herzen. Dass sie in Deinem Herzen regieren, ist nicht der großen Sache, sondern unsers großen Unglaubens Schuld…Was marterst Du Dich selbst denn so ohne Unterlass? Ist die Sache (unseres Glaubens) falsch, so lasst sie uns widerrufen, ist sie aber wahr, warum machen wir Gott in so großen Verheißungen zum Lügner, da er uns doch heißt müßig sein und ruhig schlafen? „Wirf“, sagt er, „deine Sorgen auf den Herrn.“ (Ps 55, 23) „Der Herr ist nahe allen, die ihn anrufen“ (Ps 34, 19 und 145,18). Redet er denn solche Worte in den Wind oder wirft sie den wilden Tieren vor? (…) Als ob Ihr mit Eurem unnützen Sorgen etwas ausrichten könntet! Was kann denn der Teufel mehr tun, denn dass er uns töte? Was noch? Ich beschwöre dich, der du doch sonst in allen Sachen kämpfst, kämpfe auch gegen dich selbst, Deinen größten Feind, der du dem Teufel so viele Sachen gegen Dich reichst. (…) Der unser Vater geworden ist, wird auch unserer Kinder Vater sein. Ich bete wahrlich mit Fleiß für Dich, und es tut mir weh, dass Du unverbesserlicher Sorgen-Blutegel meine Gebete so vergeblich machst. Ich wenigstens bin, was die Sache (des Glaubens) angeht – ob es Dummheit ist oder der Geist, mag Christus sehen – nicht sonderlich beunruhigt, vielmehr besserer Hoffnung, als ich zu sein gehofft hatte. Mächtig ist Gott, die Toten zu erwecken, mächtig ist er auch, seine Sache, wenn sie gleich fällt, zu erhalten, wenn sie gefallen ist, wieder aufzurichten. Werden wir dazu nicht würdig sein, so geschehe es durch andere. Denn wenn wir durch seine Verheißungen nicht aufgerichtet werden – ich bitte Dich, wer anders ist denn schon auf der Welt, den sie sonst angehen sollten? Aber ein andermal mehr, ich trage doch nur Wasser ins Meer“ (WA Br 5, 398-400 Nr. 1605).

Solche Briefe von der Coburg braucht es, um sich auch heute in „lutherisches Profil und geistliche Konzentration“ einzuüben, damit die Kirche im Dorf gelassen und das Nächstliegende getan werden kann.


[1] Robert C. Girard, Brüder, laß los…Gemeinde Jesu zwischen Betriebsamkeit und Leben, Stuttgart 1974, 64f.

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