Kirchenwirklichkeit als Krisenwirklichkeit?

Schaut man auf die Seite der Aufgaben und Aktivitäten innerhalb der Kirche, so scheint Kirche höchst vital. Umso erstaunlicher, dass dennoch regelmäßig und jüngst verstärkt von Krisen der Kirche geredet wird. Es gibt durchaus so etwas wie eine Diskrepanz zwischen kirchlicher Vitalität einerseits und der regelmäßigen Thematisierung von Krisen der Kirche andererseits. Gerald Kretzschmar greift diese Diskrepanz auf und fragt nach den Kontexten, in denen die Rede von der Krise der Kirche verortet ist, und welchen Funktionen die Krisenwahrnehmung dient. Gibt es neben der Krisenwahrnehmung andere Sichtweisen auf das kirchliche Leben?

Von Gerald Kretzschmar

„Das vierte und letzte Feld eines kirchlich-institutionellen Krisendiskurses bezieht sich schließlich auf den Bereich von Kirchenleitungen. Das Muster kirchenleitender Krisendiskurse basiert auf der Präsentation von rückläufigen Messzahlen z.B. in Bezug auf Finanzen, Personal und Mitglieder und/oder eben auf der Präsentation empirischer Befunde, die einen angeblich gravierenden Schwund von Religiosität und Kirchlichkeit belegen sollen. Auf die Zeichnung eines Krisenszenarios folgen in der Regel Vorschläge zur künftigen Gestaltung des kirchlichen Lebens. Meist stehen gar nicht so sehr die empirischen Analysen im Vordergrund, sondern spezifische Programmatiken, deren Realisierung weitreichende Folgen für das kirchliche Leben hat. Die Präsentation von Zahlen und anderen empirischen Befunden erfüllen weniger eine analytische, handlungsorientierende Funktion als vielmehr eine rhetorische Funktion, nämlich die der Erzeugung von Handlungsdruck. Ziel ist es, die jeweils empfohlene Programmatik als gleichsam zwangsläufig notwendig und alternativ­los zu inszenieren.

Ein prominentes Beispiel für einen Krisendiskurs, der diesem Muster folgt, ist der im Jahr 1999 von dem EKD-Papier »Das Evangelium unter die Leute bringen« angestoßene evangelikal-missionarische Reformprozess, der im weiteren Verlauf in das EKD-Impulspapier »Kirche der Freiheit« aus dem Jahr 2006 mündete. Dieser Krisendiskurs auf kirchenleitender Ebene wirkt sich bis in die Gegen­wart auf weite Teile des kirchlichen ­Lebens aus – und das mit weitreichenden Problematiken in Bezug auf die Gefährdung gewachsener und vitaler kirchlicher Strukturen, in Bezug auf die Wahrnehmung der ­Kirchen­mit­glieder und ihrer pluralen Formen der Kirchenbindung, aber auch in Bezug auf das Verständnis des Pfarrberufs, auf die Bedeutung der parochial verfassten Kirchengemeinden und damit einhergehend auf die Bedeutung örtlicher und personaler Bindungen. (…)

Die von Kirchenleitungen initiierten Krisendiskurse geben vor, dass es aus einer vermeintlichen Krise nur den Ausweg über eine ganz bestimmte Programmatik gibt. Sie gelte es jetzt dringend und konsequent in die Tat umzusetzen. Ähnlich wie bei den schlichten säkularisierungstheoretischen Krisendiskursen fällt auch hier wieder auf: Nur bestimmte Phänomene werden herausgegriffen und einseitig unter dem Aspekt des Rückgangs betrachtet, nicht aber unter dem des Wandels.

Ferner wird ein Kirchenbild aus der Vielzahl faktisch vorhandener und bindungsrelevanter Kirchenbilder programmatisch exponiert und als handlungsleitende Größe für anstehende Strukturveränderungen präsentiert. Aus der Sicht mediatisierter Kommunikation geht es vornehmlich um die Durchsetzung partikularer Interessen. Eine Teilgruppe innerhalb der plural verfassten und sozial wie funktional ausdifferenzierten Großorganisation Kirche versucht, das von ihr präferierte Kirchenbild mit den dazugehörigen Formen kirchlicher Praxis in der Kirche als ganzer durchzusetzen. Aus der Sicht mediatisierter Kommunikation ist es nicht problematisch, dass hier spezifische Kirchenbilder und die dazugehörigen Praxisimplikationen angesprochen werden. Wohl aber ist es problematisch, dass andere Kirchenbilder und Praxisformen, die gerade in ihrer Pluralität konstitutiv für den Erhalt des kirchlichen ­Lebens in der Gesellschaft sind, abgewertet oder ganz verdrängt werden sollen. In solchen Fällen verfehlen Kirchenleitungen ihre Aufgabe. (…)

Die Parochie ist die perspektivenreichste Organisationsform des kirchlichen Lebens. Sie trägt den für moderne Kirchenbindungsformen maßgeblichen Faktoren der persönlichen Bindung und der Örtlichkeit am stärksten Rechnung. Die Einbindung in ein persönliches Netzwerk und der Bezug zu einem konkreten Ort sind für die Menschen in der Moderne notwendige Korrespondenzgrößen zur alltäglich notwendigen und geforderten Mobilität.“

Lesen Sie hier den ganzen Artikel aus dem Deutschen Pfarrerblatt, 1/2019: http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/index.php?a=show&id=4657

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