Fragen und Probleme rund um kirchliche Reformprozesse (VII)
Von Georg Hoffmann (Vorsitzender des Gemeindebunds Berlin-Brandenburg)
Was das EKD-Papier »Kirche der Freiheit« in der landeskirchlichen Wirklichkeit verändern soll, lässt sich besonders rein und fortgeschritten am Beispiel der Evang. Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) ersehen, war doch deren langjähriger Bischof Wolfgang Huber Ratsvorsitzender der EKD, als das EKD-Papier 2006 herauskam, und beherrschte dieser bis vor kurzem die Institutionen der Landeskirche so, wie es kaum einem anderen möglich war.
1. Erweckung von oben nach unten
Die EKD strebt mit »Kirche der Freiheit« nichts anderes als einen Erweckungsprozess von oben nach unten an. Dies wirft unter anderem die Frage auf, wie die Kirchenleitungen in die Lage versetzt werden sollen, eine Erweckung zu organisieren. Nach den Vorstellungen der EKD haben sie sich hierbei vorrangig der kirchlichen Mittelebene (Kirchenkreise, Dekanate) zu bedienen, die zur Umsetzung von Reformen in den Kirchengemeinden am besten geeignet sei. Darüber hinaus wird der Pfarrberuf als Schlüsselberuf für die Umsetzung der Reformen angesehen, weil nur er für die ganze Landeskirche stehe und der Dienstaufsicht unterliege, die das wirksamste Mittel landeskirchlicher Rechtsaufsicht darstelle.
2. Modellkirchenkreis Wittstock-Ruppin
Schon seit Februar 2005 liefen im Konsistorium der EKBO Überlegungen zur modellhaften Umgestaltung des Kirchenkreises Wittstock-Ruppin.
2.1 Abschaffung des Gemeindepfarramtes
Die Kirchenleitung der EKBO erließ 2007 eine Erprobungsverordnung für den Kirchenkreis Wittstock-Ruppin, die vorsah, dass der Kirchenkreis als ein einziger Pfarrsprengel gelten solle und die Gemeindepfarrstellen als Pfarrstellen dieses Pfarrsprengels zu behandeln seien. Die Aufgaben des Gemeindekirchenrates habe dabei der Kreiskirchenrat wahrzunehmen. Dieser sollte also darüber entscheiden können, welcher Mitarbeiter im Kirchenkreis welche Aufgaben wahrnimmt. Insoweit sollte jede Region im Kirchenkreis einen Pfarrer als Grundversorger erhalten, während insbesondere der Konfirmandenunterricht sowie die Jugend- und Erwachsenenarbeit überregional von Pfarrern als Spezialisten wahrgenommen werden sollten. Der Kreiskirchenrat beschloss zu diesem Zweck eine Liste, in der allen Pfarrern und sonstigen Mitarbeitern im Kirchenkreis eine entsprechende Aufgabe zugewiesen wurde. Das Einverständnis der Mitarbeiter sollte angestrebt werden, war jedoch nicht erforderlich. Auf die Zustimmung der betroffenen Gemeinde sollte es nicht ankommen.
2.2 Bildung von sog. Gesamtkirchengemeinden
Die 54 Kirchengemeinden des Kirchenkreises Wittstock-Ruppin wurden zu fünf Kirchengemeinden zusammengeschlossen, die nach der Erprobungsverordnung die Struktur von sog. Gesamtkirchengemeinden erhielten, innerhalb derer die bisherigen Kirchengemeinden als Ortskirchengemeinden fortexistieren sollten. Allerdings verloren sie dabei ihren Körperschaftsstatus und wurden auf bloße Mitbestimmungsgremien reduziert, während der Gesamtgemeindekirchenrat allein als Gemeindekirchenrat anzusehen ist. Die Bezeichnung Gesamtkirchengemeinde ist also beschönigend und irreführend.
2.3 Erfolgreiche Klagen gegen Gemeindefusionen
Die Kirchenkreisreform stieß nicht nur auf Zustimmung. 21 der insgesamt 54 Kirchengemeinden des Kirchenkreises Wittstock-Ruppin klagten 2008 erfolgreich beim Verwaltungsgericht der EKBO gegen die Gemeindefusionen, so dass zwei der geplanten fünf Gesamtkirchengemeinden des Kirchenkreises nicht zustande kamen. Grund für den Erfolg der Klagen war, dass die Kirchenleitung der EKBO nicht ermächtigt war, Erprobungsverordnungen für Kirchengemeinden zu erlassen. Gleichwohl wurde die Kirchenkreisreform seit dem 1. Januar 2008 unbeirrt und der kirchlichen Ordnung zuwider praktiziert. Eine gültige Rechtsgrundlage musste erst noch geschaffen werden.
2.4 Wegbrechen des Kernstücks der Reform und Nachspiel
In dieser schwierigen Phase der Reform entstand ein neuer Konflikt in einer der drei wirksam gebildeten Gesamtkirchengemeinden, der sich daran entzündet hatte, dass der Kreiskirchenrat nach der Reform darüber bestimmen können sollte, welcher Pfarrer in der Gemeinde tätig ist. Die betroffene Gesamtkirchengemeinde Temnitz schloss sich daher den Anliegen der aufgrund ihrer erfolgreichen Klagen weiterhin selbständigen 21 Gemeinden an, sodass im Frühjahr 2009 ein Kompromiss gefunden werden konnte, der diese Gemeinden wunschgemäß von der Kirchenkreisreform ausnahm und im übrigen vorsah, dass der Kreiskirchenrat über den Einsatz der Mitarbeiter im Kirchenkreis nur im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitarbeiter und der betroffenen Gemeinde entscheiden darf. Damit war das Kernstück der Reform – die zentrale Steuerung des Mitarbeitereinsatzes durch den Kirchenkreis – weggebrochen. Die Landessynode sicherte diesen bis 2013 befristeten Kompromiss durch ein besonderes Verfassungsgesetz ab.
Für die Gesamtkirchengemeinde Temnitz gab es aber noch ein unerfreuliches Nachspiel: Der Vorsitzende des Gesamtgemeindekirchenrates, ein Gemeindepfarrer und ein ordinierter Gemeindepädagoge wurden unter Beteiligung von Bischof Wolfgang Huber aus ihren Ämtern gedrängt und die Gesamtkirchengemeinde Temnitz auf diese Weise institutionell wieder reformwillig gemacht. Dies war für die Fortführung der Kirchenkreisreform ab 2013 sowie zur landeskirchenweiten Einführung des Reformmodells wesentlich, denn jetzt war es vordergründig wieder möglich, die Kirchenkreisreform in ihrer ursprünglichen Gestalt vor dem Kompromiss als Erfolg zu präsentieren.
3. Organisierung einer Erweckung
Die von der EKD geplante Erweckung bedarf der Organisation. Dafür eröffnen sich zwei Handlungsfelder: zum einen müssen die Reformideen, soweit es geht, in die Gemeinden getragen werden, um dort möglichst eine freiwillige Übernahme zu bewirken; zum anderen müssen aber auch rechtliche Vorkehrungen dafür getroffen werden, die greifen können, wenn eine freiwillige Übernahme in den Gemeinden nicht herbeigeführt werden kann. Denn auch zur Anwendung solchen Zwanges seien die Kirchenleitungen berufen, da es nun einmal eine synodale Struktur in der evangelischen Kirche gebe und Kirchenleitung auch wirklich Kirchenleitung bedeute.
3.1 Festlegen und Einhalten von Zielen
Im Jahr 2007 legte Bischof Huber das landeskirchliche Perspektivprogramm »Salz der Erde« vor, dem 2011 eine Konzeption zur Fortführung des Reformprozesses mit 12 Projekten folgte. Projekt 1 sieht die Ausbildung von 70 Trainern vor, die die Bedeutung von Zielen lernen und dabei die Gesamtheit der EKBO in den Blick nehmen sollen. In einem zweiten Schritt sollen aus jeder Gemeinde zwei Personen entsprechend fortgebildet werden. Projekt 3 sieht sodann vor, dass die Gemeinden unter Hilfestellung der genannten Trainer zwei bis acht Handlungsfelder planen, davon jährlich eins. Mit den Verantwortlichen sollen Zielvereinbarungen geschlossen werden. Auch die Visitationen sollen mit Projekt 2 in den Dienst der Kirchenreform gestellt werden, indem sie eine Verständigung über Zielsetzungen herbeiführen und die Planungsprozesse motivieren und begleiten sollen. Zur Stärkung der Identität der Mitarbeitenden in den Gemeinden sieht Projekt 4 alle fünf Jahre eine Art Kirchentags-Event auf Landeskirchenebene vor.
Ergänzend verabschiedete die Landessynode 2012 das Diskussionspapier »Orientierungspunkte für den Reformprozess«, das einen missionarischen Ansatz der EKBO feststellt und thematisiert, wie zielorientiert zu handeln ist und wie die Zielerreichung sichergestellt werden kann, bspw. durch Einführung eines sog. Interimspfarramtes, bei dem ein ausgewählter Interimspfarrer Vorschläge zu gemeindlichen Strukturveränderungen unterbreitet und die reguläre Wiederbesetzung der Pfarrstelle erst nach Umsetzung dieser Vorschläge erfolgt.
3.2 Zwangsweise Durchsetzung von Zielen
Übernehmen die Gemeinden die ihnen nahe gebrachten Ziele nicht freiwillig, ist inzwischen durch wesentliche Rechtsänderungen Abhilfe möglich. Die kirchliche Mittelebene ist durch diverse Kirchenkreisfusionen gegenüber den Gemeinden gestärkt worden. Die Kreissynoden können kreiskirchliche Stellenpläne beschließen, mit denen die Gemeinden ihre Stellenhoheit verlieren. Für die Wiederbesetzung einer Gemeindepfarrstelle ist das Einverständnis des Kreiskirchenrates erforderlich, so dass der Kreiskirchenrat entscheiden kann, wann und für welchen regionalen Bereich Gemeindepfarrstellen besetzbar sind. Damit kann er nach seinem Befinden auch sog. Interimspfarrstellen einrichten. Die Abhängigkeit der Pfarrer von der landeskirchlichen Dienstaufsicht ist wesentlich dadurch erhöht worden, dass Gemeindepfarrstellen nur noch befristet auf 10 Jahre übertragen werden können. Das von der EKBO übernommene neue Pfarrdienstgesetz der EKD hat darüber hinaus die Neuerung gebracht, dass Pfarrer versetzt werden können, so bspw. nach Ablauf der zehnjährigen Befristung oder bei Änderung der kreiskirchlichen Stellenplanung. Eine nach badischem Vorbild gestaltete neue Visitationsordnung führt zielorientierte Visitationen mit zwingenden Zielvereinbarungen ein; die Einhaltung der vereinbarten Zielvorstellungen soll ein oder zwei Jahre nach der Visitation über einen Zwischenbesuch kontrolliert werden.
3.3 Landeskirchenweite Übernahme des Reformmodells von Wittstock-Ruppin
Die erheblichsten Rechtsänderungen nahm die Landessynode der EKBO im November 2012 vor, indem sie umfangreiche Änderungen der Grundordnung beschloss und ein Gesamtkirchengemeindegesetz einführte23. Damit soll die Kirchenkreisreform in Wittstock-Ruppin in ihrer ursprünglichen Gestalt von allen Kirchenkreisen der EKBO übernommen werden können. Den Kreissynoden wird es überlassen, durch einfachen Mehrheitsbeschluss das Gemeindepfarramt abzuschaffen und den Pfarrdienst im Kirchenkreis in Grundversorger und Spezialisten aufzuteilen und beim Kirchenkreis anzusiedeln.
Weiter werden die Kirchenkreise dadurch aufgewertet, dass die Gemeindeglieder nunmehr auch Mitglieder der Kirchenkreise sind. Die Kirchenkreise können Stellen für kirchengemeindliche Aufgaben beim Kirchenkreis errichten und Aufgaben der Kirchengemeinden dem Kirchenkreis übertragen.
Die Zahl der Gemeindefusionen soll durch die neue Möglichkeit, sog. Gesamtkirchengemeinden zu bilden, erleichtert werden. Diese sind ganz nach dem Vorbild von Wittstock-Ruppin gestaltet. Es ist insbesondere keine Garantie für den Fortbestand der örtlichen Untergliederungen vorgesehen, und die Ältesten werden nur noch mittelbar von der Gemeindesynode aus den Reihen der Mitglieder der Ortskirchenräte gewählt.
4. Kritik und Gründung eines Gemeindebundes
Bisher ist nicht feststellbar, dass die Reformbemühungen »Kirche der Freiheit« zu einer Erweckung geführt haben, weder in Wittstock-Ruppin noch anderswo in der EKBO. Das angestrebte Wachstum gegen den Trend ist ausgeblieben. Christliche Erweckung kann auch nicht organisiert werden, da sich niemand am eigenen Schopf aus dem Unglauben herausziehen kann. Die offenbar gegenteiligen Vorstellungen der Urheber des von der EKD ausgegangenen Reformprozesses beruhen auf einem semipelagianischen Denkansatz und folgen mehr dem Freiheitsbegriff des Erasmus von Rotterdam als demjenigen Luthers.
Der Gedanke der innerkirchlichen Solidargemeinschaft darf nicht so weit getrieben werden, dass Gemeinden aus bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen heraus als Steinbruch für andere Gemeinden genutzt oder zur Fusion mit anderen Gemeinden gezwungen werden dürfen, nur um ihr Vermögen zwischen den Gemeinden teilen oder mit dem Vermögen einer reichen Gemeinde ein »Leuchtfeuer« setzen zu können, das über die Gemeinde hinaus erstrahlt. In der EKBO hat sich als Gegenbewegung der »Gemeindebund« gegründet, dem zurzeit zwar nur 53 Kirchengemeinden angehören, aber immerhin aus fast allen Teilen der Landeskirche. Der Gemeindebund sucht, eine theologische Diskussion über den Zustand der evangelischen Kirche in den Gemeinden anzuregen und auf Gefahren für die Gemeinden vor synodalen Reformbeschlüssen hinzuweisen. Er versteht sich als Netzwerk von Gemeinden, die sich in Bedrängnis helfen und in einem gegenseitigen Austausch stehen wollen. Er gibt einen Newsletter heraus und unterhält eine Homepage (http://www.gemeindebund-online.de/).
Der jetzige Landesbischof von Hannover und damalige Generalsuperintendent von Berlin Ralf Meister warf ihm eine theologische Überhöhung seines Anliegens vor. Die Kirchengemeinden seien bloße Verwaltungsstrukturen der Landeskirchen und als solche »historisch kontingent« (zufällig). Aber sogar nach der aktuellen Verfassungslage in der EKBO sind die Kirchengemeinden in ihrem Bereich Kirche im Vollsinn. Es scheint allerdings einzureißen, Kirche im Vollsinn auch fast überall woanders zu sehen, nämlich sowohl im Kirchenkreis als auch in der Landeskirche, weil auch dort wenigstens gelegentlich gemeinsame Gottesdienste stattfinden, sei es auch nur anlässlich einer Kreis- oder Landessynode. Damit entsteht aber eine Verschiebung in der presbyterial-synodalen Ordnung, die droht, diese durch Herabsetzung des presbyterialen Elements zu kippen.
Aus: Deutsches Pfarrerblatt – Heft: 2/2013 (Hier finden Sie auch die zum Artikel gehörenden Anmerkungen.)