Unter dem Titel „Zu kurz gegriffen“ versuchte Dr. Martin Fritz im Korrespondenzblatt Nr. 5/2011, S. 86, eine Metakritik an den theologischen Argumenten von „Aufbruch Gemeinde“. Der folgende Artikel ist die Antwort von Prof. Dr. Wolfgang Schoberth, die unter dem Titel „Christen tragen die Kirche“ im Korrespondenzblatt Nr. 8/2011 auf Seite 146 erschien.
Im Korrespondenzblatt 5/2011 kündigte Martin Fritz eine ekklesiologische Metakritik zum „Aufbruch Gemeinde“ an; vorgelegt hat er freilich lediglich eine Anti-Kritik, und noch dazu eine theologische recht schlicht begründete. Ein metakritisches Verfahren würde es erfordern, dass der Meta-Kritiker sich auf die kritische Bewegung zunächst einmal einlässt, die kritischen Argumente versteht und weiterführt, um dann über die kritische Position wiederum hinauszukommen. Das geschieht hier nicht. Stattdessen operiert Fritz in seiner Kritik am „Aufbruch Gemeinde“ mit Unterstellungen, vorurteilsgeladenen Interpretationen und bloßen Behauptungen. Das ist schade, weil dadurch gerade kein Diskurs eröffnet, sondern das nötige Gespräch um angemessene Gestalten und Strukturen der Kirche schon beendet wird, bevor es beginnt. Damit dieses Gespräch nicht durch allzu viele unnötige Diskussionen um Positionen, die gar nicht vertreten werden, belastet wird, sei nur dies ganz kurz gesagt: Beim „Aufbruch Gemeinde“ kann keineswegs davon die Rede sein, dass die Ortsgemeinde theologisch überhöht, als Norm verstanden oder gar als einzig legitime Form von Kirche ausgegeben werden solle. Wohl aber wird die Überzeugung vertreten, dass die Ortsgemeinde für eine evangelische Kirche von zentraler Bedeutung ist und deshalb auch angemessen in der Kirchenstruktur zur Geltung kommen muss; das aber ist etwas anderes als eine normative Überhöhung. Deswegen findet sich hier auch mitnichten eine bloße Wiederholung von Bekenntnisformulierungen; erst recht werden die Augen vor den Gegenwartsbedingungen der Kirche nicht verschlossen, wohl aber darüber nachgedacht und diskutiert, welche Konsequenzen aus diesen Bedingungen für die institutionellen und politischen Strukturen der Kirche zu ziehen sind, damit diese dem entsprechen, was Kirche ihrem Wesen nach ist. Diese Diskussion muss auch in und unter den Gemeinden geführt werden und kann nicht durch Planungsgruppen und Stabsstellen ersetzt werden; dass diese Diskussion in den letzten Jahren eben unterblieben ist und durch zentral induzierte Strategien ersetzt wurde, die wiederum ohne Partizipation der Gemeinden durchgesetzt werden sollen – das ist der wesentliche Anlass für den „Aufbruch Gemeinde“, weil hier die begründete Befürchtung entsteht, dass solcher kirchenpolitischer Zentralismus der evangelischen Kirche gerade unter den gegebenen Verhältnissen nicht gut tut.
Es geht also, wie dann auch Fritz einräumt, um grundsätzliche ekklesiologische Überlegungen und ihre Entsprechungen in der institutionellen Gestalt der Kirche. Seine eigenen ekklesiologischen Grundannahmen will Fritz dann im Rekurs auf Luther darlegen. Dazu greift er zunächst die vom „Aufbruch Gemeinde“ in der Tat betonte Bestimmung des „Priestertums aller Gläubigen“ auf; den ursprünglichen Sinn dieses Begriffs bei Luther sieht er in der „Idee religiöser Mündigkeit“. Nun mag man es durchaus für nötig halten, Luther in Kategorien zu interpretieren, die diesem schlicht fremd waren, und sich aus dem Ganzen seiner Theologie auch nicht ohne weiteres ableiten lassen; man sollte das dann freilich offen zugeben, dass man Luther auf diese Weise für eigene Ideen und Vorstellungen in Anspruch nimmt oder, wie es Fritz vielleicht eleganter formulieren würde, „im Rahmen einer Theorie des neuzeitlichen Christentums“ fortschreiben zu müssen meint. Luthers eigene Theologie damit zu erfassen, sollte man dann allerdings nicht beanspruchen; erst recht fragwürdig ist es, einen solchermaßen uminterpretierten Luther auch noch polemisch in Stellung zu bringen. Was bei Luther ‚religiöse Mündigkeit‘ heißen soll und wie diese sich bei Luther von einer ‚kirchlichen Mündigkeit‘ unterscheiden ließe, wird dann auch bei Fritz nicht weiter erläutert. Das ist auch kaum anders denkbar, weil sich bei Luther hier auch gar nicht unterscheiden lässt, schon weil ihm der uns geläufige Begriff des ‚Religiösen‘ in Absetzung von der kirchlichen Realität des Glaubens gar nicht zur Verfügung steht. Die ‚religiöse Mündigkeit‘ ist, wie der in dieser Weise verwendete Begriff der Religion überhaupt, eine Konstruktion des 19. Jahrhunderts, die man der Reformation nicht unterschieben sollte. Ob dieses Konzept überhaupt eine theologisch wie religionssoziologisch sinnvolle und tragfähige Figur ist, was ich bezweifle, ist hier nicht weiter zu diskutieren; Luther kennt sie jedenfalls nicht.
Die Folgerungen, die Fritz aus seiner These zieht, sind denn auch zumindest widersprüchlich, weil sie sich am Material auch gar nicht durchführen lässt: Einerseits soll dieser Gedanke mit den Fragen der Kirchenordnungen nichts zu tun haben, andererseits dann wieder „einschneidende Folgen für das Verständnis des besonderen geistlichen Amtes“ haben – wie lassen sich eigentlich wiederum Amt und Kirchenordnung so säuberlich unterscheiden? –; anschließend werden immerhin mittelbare Folgen für die Kirchenordnung eingeräumt. Offensichtlich ist die Frage, ob die reformatorischen Grundentscheidungen Auswirkungen für die kirchliche Institutionalität haben, doch nicht so einfach zu eliminieren. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass Fritz’ Behauptung, aus „Luthers Gedanken vom Priestertum aller Gläubigen“ lasse sich „für aktuelle kirchliche Strukturfragen positiv wenig gewinnen“, zumindest irreführend ist: Eine Diskussion um die aktuellen notwendigen Strukturfragen in einer evangelischen Kirche wird orientierungslos und verliert ihren eigenen Gegenstand, wenn sie sich auf diese Grundeinsicht nicht einlässt, auch wenn diese freilich – was meines Wissens auch niemand beansprucht – keine Eindeutigkeit produziert.
Unsichtbare vs. verborgene Kirche
Will Fritz solche Eindeutigkeit dann selber herstellen, wenn er in normativer Absicht Luthers Kirchenverständnis darzustellen unternimmt? Dabei ist es für mich freilich einigermaßen überraschend, dass dazu die von Luther bekanntlich äußerst skeptisch betrachtete Formulierung von der „unsichtbaren Kirche“ (unter Verweis auf Ulrich Barth) zur „ekklesiologischen Leitidee“ Luthers erklärt wird. Diese mindestens missverständliche, in der Folge aber auch oft genug ekklesiologisch verhängnisvolle Redeweise, die übrigens deutlich vorreformatorischen Ursprungs ist, hat ihre particula veri darin, dass die institutionelle Kirche und die Kirche des Glaubens nicht einfach identisch sind. Sie wird aber zur glatten Unwahrheit, wenn sie das Wesen der Kirche in ihrer Unsichtbarkeit verorten wollte. Weit weniger missverständlich und der Theologie wie dem Sprachgebrauch Luthers näher wäre es, dies als Spannung zwischen der sichtbaren und der verborgenen Kirche zu fassen: Verborgen ist die Kirche Jesu Christi, weil sie der Wirklichkeit Gottes, nicht der Wirklichkeit der Menschen zugehört; sichtbare und verborgene Kirche lassen sich aber gerade nicht gegeneinander ausspielen.
Die Sichtbarkeit der verborgenen Kirche
Eine Theologie, die sich der Leibhaftigkeit der Gegenwart des Wortes Gottes so bewusst ist wie die Luthers, widerspricht aufs Schärfste der Auflösung der Kirche in die Unsichtbarkeit; als Kirche ist sie aber gerade in unserer leiblichen und sichtbaren Wirklichkeit gegenwärtig, und die verborgene Kirche ist darum nirgendwo anders zu haben als in der sichtbaren Kirche. Eine ‚unsichtbare Kirche‘ wäre, wie die gegenreformatorische Polemik nicht ohne Grund und gegen mache protestantische Unbedachtheit genüsslich anführt, ein bloßes Gedankending: Sie löst sich auf in eine fromme Innerlichkeit einerseits, eine religiös-kulturelle Stimmung andererseits, die beide die Kriterien, die sie voraussetzen und denen sie folgen, nicht offenlegen und reflektieren können, weshalb sie allen möglichen Strömungen und ihren Plausibilitäten ausgesetzt sind. Demgegenüber legt die reformatorische Ekklesiologie großes Gewicht darauf, dass auch die sichtbare Kirche ihrem Wesen als Kirche Jesu Christi entspricht. Oder sollte alle reformatorische Kirchenreform nur unnötiger Eifer gewesen sein, wenn die äußere Gestalt doch nur sekundär und die Wahrheit der Kirche nur in der Innerlichkeit liegt?
Eben in der Dialektik zwischen Verborgenheit und Sichtbarkeit, genauer: der Verborgenheit in der Sichtbarkeit der Kirche liegt dann auch die Pointe von CA VII. Denn hier geht es um die Wirklichkeit der Kirche, die vor aller Augen liegt, und die doch zugleich die Gegenwart der verborgenen Kirche ausmacht. Kirche ist, nach reformatorischen Verständnis, die Versammlung der Gemeinde; gerade hier liegt übrigens die ökumenische Weite und Weisheit reformatorischer Ekklesiologie. Es ist keine Frage, dass die wesentliche Bestimmung von Kirche durch die Faktizität der sich um das Wort Gottes versammelnden Gemeinde nicht unmittelbar eine Festschreibung, erst recht nicht eine Überhöhung parochialer Strukturen bedeutet. Nicht die Ortsgemeinde, sondern die Gottesdienstgemeinde ist die Mitte reformatorischer – und doch wohl gemeinchristlicher? – Ekklesiologie. Niemand bestreitet, dass auch in Jugendkirchen, auf Kirchentagen und in evangelischen Akademien sich die Gemeinde Jesu Christi versammelt. Aber auch diese Versammlungen sind in eminenter Weise sichtbar. Die „unsichtbare Kirche“ ist eine unglückliche Konstruktion. Sie verunklart die wesentlichen Momente; der Begriff führt in falsche Alternativen und produziert irreführende Assoziationen. Die religiöse Innerlichkeit, die durch dieses Konzept zum reformatorischen Grundprinzip erhoben werden soll, ist jedenfalls der Theologie Luthers vollkommen fremd: deren Zentrum liegt nicht – fast fühlt man sich an die Lutherinterpretation Karl Holls erinnert – im unsichtbaren Bereich des Gewissens, sondern in dem ganz öffentlich und auch ganz sinnlich präsenten Wort Gottes.
Religionstheoretische Nostalgie oder ekklesiologischer Realismus
Es steht außer Zweifel, dass sich aus der reformatorischen Bestimmung des Wesens der Kirche keine definierte Kirchenstruktur ableiten lässt. Es steht aber auch außer Zweifel, dass jede Kirchenstruktur, die sich auf die Reformation berufen will, sich am Wesen der Kirche messen lassen muss. Dieses Wesen aber, daran lassen wiederum die Reformatoren keinen Zweifel, besteht in der Verkündigung des Wortes Gottes – diese aber ist alles andere als innerlich. Es ist wohl auch unstrittig, dass die Fragen der Kirchenstruktur jeweils beantwortet werden müssen in Relation zu kulturellen Wirklichkeit, in der Kirche jeweils lebt. Hierbei sind soziologische Analysen unverzichtbar. Es wäre freilich fatal, wenn hier die in Theologie und Kirche allerdings nicht selten anzutreffende Naivität ausschlaggebend wäre, die die religionssoziologischen Untersuchungen und Theorien für die Wirklichkeit selbst hält: Wie jede Wissenschaft liefert auch die Religionsforschung ein methodisch konstruiertes Bild der Wirklichkeit, nicht diese selbst; und dieses Bild ist wiederum abhängig von den Kategorien, die als analytische Leitsonden angewandt werden. Die theologische Analyse und das kirchenleitende Handeln kommen nicht darum herum, die soziologischen Forschungen noch einmal kritisch und innerhalb eines theologischen Referenzrahmens zu reflektieren. Dann freilich zeigt sich ein Bild, das von den gängigen pseudo-soziologischen Konstrukten theologischer Theoriebildung noch einmal gründlich unterschieden ist. Die theologisch wie empirisch entscheidende Frage ist die nach Kirchenstrukturen, die dem entsprechen, was als das Wesen der Kirche erkannt wird. Die Diskussion darum wäre allererst zu öffnen. Es liegt auf der Hand, dass solche Strukturen vielgestaltig sein müssen. Zu ihnen gehören übergemeindliche Institutionen und Dienste ebenso wie Anstaltsgemeinden; der Blick auf die schlichtesten statistischen Größen belehrt aber darüber, dass hier nach wie vor, in den Städten nicht anders als auf dem Land, den Parochialgemeinden eine herausragende Bedeutung zukommt. Ekklesiologische Leitbilder, wie sie in Planungsstäben, aber auch in unglücklichen theologischen Konzepten wie dem der neubelebten ‚unsichtbaren Kirche‘ erscheinen, leiden nicht selten daran, dass sie vollständig die Frage übergehen, wie jene ‚religiöse Subjektivität‘ überhaupt zu Stande kommt, an die sie sich adressieren und die sie als Ressourcen beanspruchen. Mit dem Rücksprung zu religionstheoretischen Kategorien des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts ist den gegenwärtigen Herausforderungen jedenfalls kaum zu begegnen.
Reformatorische Ekklesiologie war da realistischer: Sie erkennt die Notwendigkeit von Strukturen, in denen das Wort Gottes wirklichen Menschen in ihrer Lebenswelt nahe kommt. Alle soziologischen Erhebungen, die uns vorliegen, zeigen, dass solche Strukturen wesentlich lokal und personal vermittelt sind. Die idealistische Konstruktion einer innerlichen Kirche dispensiert sich von solchen elementaren Fragen der Realität des Glaubens. Sie liegt ganz auf der Linie einer eigentlich längst überwunden geglaubten Fehlinterpretation der sogenannten „Zwei-Reiche-Lehre“, die alle Fragen der äußeren Struktur in eine vorgebliche Eigengesetzlichkeit verweist. An der Reformation ist nicht zuletzt das zu lernen, dass auch die Fragen der leibhaftigen Wirklichkeit eminent theologische Fragen sind.
Es gibt freilich auch genug soziologische Gründe dafür, dass die Zukunft der Institution Kirche, wie wir sie kennen, nicht zuletzt damit verbunden ist, ob es ihr gelingt, nicht nur Institution zu sein, sondern ihre spezifische Eigenart auch in der kulturellen Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen. Auch deswegen sind Strukturfragen theologische Grundsatzfragen, wie auch die soziale Relevanz und Attraktivität der Kirchen davon abhängt, dass ihre institutionelle Logik nicht den üblichen Plausibilitäten folgt, sondern genuinen Kriterien entspricht. Wenn kirchliche Strukturreformen sinnvoll und produktiv sein sollen, dann lassen sich nicht dekretieren oder durch Expertenkommissionen erledigen. Ich verstehe den „Aufbruch Gemeinde“ nicht zuletzt als die Forderung, die Debatte um eine Gestalt der Kirche einzufordern und zu führen, die der reformatorischen Einsicht in das Wesen der Kirche entspricht – in aller notwendigen Breite und unter Beteiligung möglichst vieler der Menschen, deren Engagement und deren finanzielle Beiträge, vor allem aber: deren Christsein die Kirche trägt.
Prof. Dr. Wolfgang Schoberth
LS Systematische Theologie, Erlangen