„… aber kauf Dir keinen Schnaps davon!“ Zu diesem begleitenden Ratschlag fühlt sich mancher bemüßigt, wenn er beim Einkaufsbummel einem Obdachlosen etwas in seinen Pappbecher wirft. Da können kommunikativ Geübte viel heraushören von der seelsorgerlich-einfühlsamen Zuwendung bis zur paternalistischen Übergriffigkeit.
Diese Janusköpfigkeit eignet auch dem PUK-Papier – was den Umgang damit schwierig macht. Man bekommt ein Geschenk und weiß nicht recht, ob man sich freuen soll. PUK verspricht einerseits einen „…Kulturwandel zu mehr Vertrauen in dezentrales Gestalten (S.16)“, aber Gemeinden müssen sich andererseits eingliedern in Handlungsräume (S.17), die vorwiegend auf der mittleren Ebene definiert werden. Die Verfasser und die eine Verfasserin kündigen letztlich die Verlagerung von Macht und Ressourcen (schöner: Gestaltungsmöglichkeiten) ins Dekanat an, bleiben aber auch da sehr ungefähr (S.21). “In Zukunft könnte die gesamte Ressourcenverteilung über die Handlungsräume laufen (S.15).“ Je nach Dekanat könnte durch PUK die Ausstattung und damit die Autonomie der Ortsgemeinde weiter zurückgehen.
Die Gemeindearbeit wird nicht mehr so unreflektiert schlechtgeredet wie in vergangenen Reformpapieren. Dennoch bleibt sie die entscheidende Kontrastfolie, auf der das Neue leuchten soll. Die in den vergangenen Jahrzehnten der Kirchenentwicklung stark ausgeweiteten funktionalen Dienste oder die Praxis der Kirchenleitung selbst mit ihren zahllosen Reformprojekten werden nicht explizit hinterfragt. Dabei hat die letzte Kirchenmitgliedschaftsstudie deutlich gemacht, dass überparochiale Arbeitsformen so gut wie keine Relevanz für die Mitgliederbindung haben im Vergleich zur Ortsgemeinde als “zentraler Drehscheibe“ der Kirchenmitgliedschaft (siehe dazu Gerhard Wegner, Was bedeuten 500 Jahre Reformation? Ein Blick auf die Kirche und ihre Gemeinden, Vortrag beim Pfarrer- und Pfarrerinnenverein in Bayern; Rothenburg ob der Tauber, 8. Mai 2017). Selbst zum Kirchentag – sicher ein Paradebeispiel für ein buntes übergemeindliches Angebot – fahren nachgewiesenermaßen fast ausschließlich die, die in einer Kirchengemeinde engagiert sind, um nur ein Beispiel herauszugreifen. Diese wichtigen empirischen Erkenntnisse werden bei PUK viel zu wenig berücksichtigt. Man vertraut erneut nicht der Gemeinde vor Ort, sondern die Zentrale baut Veränderungsdruck auf.
Nun hat die Zentralisierung von Macht – ganz gleich auf welcher Ebene – ihre Gefahren. Paul Tillich macht im Rahmen seiner Lehre vom Wirken des Heiligen Geistes (Systematische Theologie Band 3, Chicago 1963, S.391) darauf aufmerksam: Durch Zentralisierung von Macht werde eine Gruppe zwar „… fähig geschichtlich zu handeln, aber sie kann von dieser Macht keinen schöpferischen Gebrauch machen, weil sie eben die schöpferischen Potenzen unterdrückt hat, die in die Zukunft führen … ihre Taten sind, wenn oft auch großartig, Ausdruck des leeren Machtwillens, weil sie des Sinngehaltes beraubt sind, der nur aus der Begegnung moralisch, kulturell und religiös freier Persönlichkeiten und Gruppen geboren werden kann.“
In der Gemeindeentwicklung bestätigt sich diese Erkenntnis für mich immer wieder. Die schöpferischen Entwicklungen ergeben sich nicht aus großartig angelegten Strategien, sondern aus vielfältigen Beziehungen auf Augenhöhe. Dazu hier ein paar kleine Beispiele: Eine Elternbeirätin im Kindergarten, aus dem Osten und ungetauft, engagiert sich mit gegen einen Pegida – Aufmarsch und für den Martinsumzug. Schließlich lässt sie sich und ihr Kind taufen. Bei der Feier im vollen Gemeindesaal ist ein Großteil der Kindergottesdienstgemeinde versammelt. – Drei Väter, einer davon gehört gar nicht zur Gemeinde, haben Lust mit mir ein Krippenspiel auf die Beine zu stellen. Zwei kandidieren schließlich für den Kirchenvorstand. – Eine muslimische Mutter im Kindergarten entschließt sich beim Schulkindersegnungsgottesdienst mitzuwirken. Die muslimischen Eltern fühlen sich dadurch besser eingebunden. Die Reihe ließe sich fortsetzen. In den Kontakten und Beziehungen zeigen sich sehr wohl die altbekannten Anlässe für Gemeindeentwicklung, also Kasualien, religöse Sozialisation, der Jahreskreis mit seinen Festen. Aber das alles ist nur begrenzt strategisch planbar durch eine Pfarrerin. In anderen Gemeinden entstehen ähnliche oder ganz andere Dinge. All das führt nicht zwingend in Mitgliedschaft und ist auch nicht daraufhin angelegt. Gemeinden haben ein unübertroffenes schöpferisches Potential.
Vieles geschieht zum Beispiel durch Erzieher im Kindergarten, eine Berufsgruppe, die bezüglich ihrer Verortung im geistlichen Amt von der Kirchenleitung beharrlich ignoriert wird. Der Glaube wächst aber nicht, wenn man andere als Bedienstete oder potentielle Mitglieder sieht. Glaubens- und damit letztlich auch Kirchentwicklung geht zurück auf das Wirken des Wortes und des Geistes in einem Geflecht freier Begegnungen und Beziehungen, wie Tillich es beschreibt. Eine Gemeindepfarrerin wird wie andere Mitarbeitende gebraucht, um diese Entwicklungen zu erkennen, sie theologisch und praktisch aufzugreifen und zu gestalten. Sie wird m.E. vorwiegend immer noch als Generalistin gebraucht, weil gerade die verschiedenen Arbeitsfelder sich gegenseitig befruchten und weil Menschen sich in ihrem sehr persönlichen Glaubensweg und Engagement oft nicht „weiterverbinden“ lassen an die nächste zuständige Stelle.
Kirchenentwicklung braucht – mit Tillich – keine Großartigkeit. Die Großartigkeit braucht aber seit geraumer Zeit ein nicht geringer Teil des kirchlichen Personals. Zu viele Pfarrer beschäftigen sich mit der Organisation Kirche selbst und richten sich an ihr aus, statt an den Menschen. Der Pfarrberuf ist viel mehr als früher ein Karriereberuf geworden und führt über entsprechende Spezialisierungen oft in völlig fachfremde Tätigkeiten, die andere besser erledigen würden. Karrieren führen aber niemals in die Gemeinde. Und auf’s Ganze der Kirchenentwicklung gesehen offenbar auch nicht in die viel beschworene größere Nähe zu den Menschen. Sie führen in die Nähe zur Organisation und in großartige Bilder davon, wie die Kirche sein sollte. Die Vielfalt, das „Kleinklein“, die schiere Menge an Kontakten, die Unstrukturiertheit und die kreativen Herausforderungen sind Gründe geworden, die Gemeinde zu meiden. Die große Verheißung, die PUK den verbliebenen Generalisten nun macht, ist ausgerechnet die Funktion im neu zu organisierenden „Raum“.
Wie kommt es, dass die Gemeinde selbst gegen die kirchensoziologischen Erkenntnisse und die theologische Vernunft nicht als Zukunftsmodell wahrgenommen wird. Die Philosophin und Soziologin Maren Lehmann hat dazu einen sehr erhellenden Vortrag vor der VELKD-Bischofskonferenz gehalten, der die Kirchenleitenden selbst in den Blick nimmt (Die folgenden Zitate stammen alle aus: Maren Lehmann, Auf der Suche nach der verlorenen Gemeinde, Vortrag auf der Klausurtagung der Bischofskonferenz der VELKD, Goslar, 18. März 2017). Lehmann erkennt in den Kirchenleitungen folgende Haltung: „Man hat sie (die Gemeinde) vergessen, nachdem man ihr ausgewichen, ihr aus dem Weg gegangen war wie einer Kleinstadt, in der man aufgewachsen war, die einem aber jetzt allzu eng wird, in der alles viel zu klein, viel zu verbraucht, viel zu träge erscheint … Die Kirchenleitung kennt sich selbst in der Gemeinde … nicht mehr wieder und weicht ihr aus – in andere Formen der Geselligkeit, der Gemeinschaftlichkeit, der Begegnung.“ Die „…vergessene Gemeinde überlebt als Reminiszenz, als Traum, als Sehnsucht, als Wunsch … Keine wirkliche Gemeinde kann diesem Desiderat gerecht werden, aber jede wirkliche Gemeinde sieht sich einem Veränderungsdruck ausgesetzt, der aus der – typisch modernen, typisch kapitalistischen, typisch bildungsbürgerlichen, also typisch protestantischen – Erwartung resultiert, daß Veränderung schon als solche wünschenswert ist und durch Arbeit, Anstrengung, Anpassung ermöglicht wird.“ Die Kirchenleitungen nehmen von sich selbst an, dass sie besser zur Gesellschaft „passen“ und treiben die Gemeinden in „anschlussfähige(n), mithin religiös eher indifferente Kommunikationen“, fordern die Gemeinde auf, „… sich stärker an den Leitungsebenen und schwächer an den Leuten zu orientieren“. Die Gemeindepfarrer treibt Kirchenleitung damit in „…Erschöpfung und Vermeidungssehnsucht.“ Kurz: Lehmann konstatiert einen verhängnisvollen Kreislauf der reformfixierten Selbstbeschäftigung, der sich nicht aus dem Evangelium, sondern aus verengten Ideologien speist und in den die Kirchenleitung die Gemeinden beharrlich hineinzieht.
Wenn PUK wirklich etwas zum Guten bewegt haben wird, hat es diesen Kreislauf durchbrochen. Das heiß konkret: Bei der nächsten Landesstellenplanung werden die Sprengel kleiner, damit Pfarrerinnen ihre Arbeit wieder machen können. Es kommen mehr Mitarbeitende und finanzielle Ressourcen in der Gemeinde an, damit Kirchenvorstände Schwerpunkte setzen können. Die Hierarchien werden flacher. Karrieren führen in die Gemeinde und damit in die Nähe zu den Leuten. 20, 30 und mehr Jahre im überparochialen Dienst gibt es nicht mehr. Es gibt mehr Wechsel zwischen Funktion und Gemeinde. Die Prüfung von Nachrangigkeiten (S. 25) erstreckt sich auf die ganze Kirche und führt zu Konsequenzen vor allem im funktionalen Bereich. Der Pfarrberuf bleibt auf die Gemeinde bezogen und behält so seinen Sinn. Das heißt auch, die Kirchenleitung hört auf damit, sich klassische Kompetenzen des Pfarrberufs einzuverleiben und sie als funktionale Hybride wieder auszuspucken (Beispiel „Geistliche Begleitung“).
Es wird sich zeigen, ob PUK so viel Innovation anstoßen und dezentrale Strukturen schaffen kann. Zu befürchten ist, dass PUK im Sinne Tillichs eine großartige Aktion der Kirchenleitung bleibt, um angesichts der bevorstehenden Landesstellenplanung die Gemeinden weiter zu kürzen und den entstehenden Ärger auf die mittlere Ebene zu lenken. „… aber kauf Dir keinen Schnaps davon!“ Die Gemeinde könnte am Ende dasitzen und in ihrem Pappbecher ist gar nichts gelandet, im Gegenteil. Sie traut ihren Ohren nicht ob des Ratschlags, den sie trotzdem bekommt und der ihr insgeheim Verschwendung unterstellt. Ungläubig hebt sie den Blick und erkennt: Der wahre Süchtige steht vor ihr. Es würden weiter viele Chancen vertan. Die Gemeinde wird es überleben, weil sie Geschöpf des Geistes und des Wortes ist. „Wir sind Bettler, das ist wahr.“ (M. Luther)
Hans-Ulrich Pschierer, Pfarrer in Fürth
Aufbruch Gemeinde – Gemeindebund Bayern
Der Newsletter November 2018 als PDF: https://www.aufbruch-gemeinde.de/download/NewsletterNov2018.pdf
Ein Gedanke zu „„… aber kauf Dir keinen Schnaps davon!“ – Der Newsletter November 2018“
Was wir in Bayern brauchen ist nicht ein abstraktes Strategiepapier wie PUK, in das jede/r Leser/in hineininterpretieren kann, was er/sie mag, der faktisch aber die Gemeinde vor Ort schwächt.
Vielmehr wirksam wäre ein Prozess, in dem in den Gemeinden vor Ort genau betrachtet und wertschätzend ausgewertet wird, was bereits gut funktioniert, was sich in der jeweiligen lokalen Konstellation bewährt hat. Den methodischen Ansatz gibt es bereits – Appreciative Inquiry (also wertschätzende Erkundung), der damit beginnt, die Beteiligten erzählen zu lassen, was ihnen Freude an ihrem Wirken in der Gemeinde gibt, was Menschen dorthin zieht und dabei hält, warum andere sich gerne zugehörig fühlen…
Bisher gibt es nur englisch-sprachige Literatur dazu, aber in England wird gerade eine deutsche Übersetzung für die Gemeindearbeit diskutiert.
Wir haben so Vieles, was wunderbar ist – in der Nähe, in der Vielfalt, in den regionalen kulturellen, alltagspraktischen und politischen Bezügen. Es wäre genug „Strategie“, diese Potenziale und vielen kleinen Erfolgsgeschichten systematisch erschließen zu wollen. Hoffentlich gibt es dafür „Raum“ in Zeiten von „Profil und Konzentration“!