Erst die Erneuerung der Herzen, dann die Neuerungen in der Kirche!
Ohne Predigt des Evangeliums kann keine evangelische Kirche sein
Von Gisela Kittel
„Luther hat sich Zeit seines Lebens schwer getan, Neuerungen in der Kirche einzuführen. Erst wenn er ganz gewiss sein konnte, dass dies abgeschafft, jenes neu gestaltet werden müsse, und wenn er gewisse Gründe aus der Schrift dafür wusste, hat er sich ans Werk gemacht. Und dies mit aller Behutsamkeit, ohne Zwänge. Denn erst müssen die Herzen gewonnen sein, so betont Luther immer wieder, ehe man in Gottesdienst, Liturgie, äußerer Kirchenorganisation etwas ändern dürfe. Ein schönes Beispiel hierfür ist Luthers zweite Predigt, die er – angesichts der Wittenberger Unruhen von der Wartburg herbeigeeilt – in der Woche nach Invocavit 1522 in der Schlosskirche in Wittenberg hielt.22 Aber auch in späteren Texten hat er diesen Grundsatz, dass niemand aus eigenem Belieben die Kirche umgestalten dürfe, den in der Kirche »Regierenden« eingeschärft. Ein Zitat aus den Predigten Luthers über den 1. Petrusbrief (1523) soll dies bestätigen:
»›So yemand eyn ampt hat, das ers thue als auss dem vermügen, das Gott dar reycht.‹ (1. Petr 4,11)
»Das ist: wer da regirt ynn der Christlichen kirchen und eyn ampt odder eyn dienst hatt die seelen zuversorgen, der soll nicht faren wie er will, und sagen: ›Ich byn ein uber herr, man muss mir gehorchen, was ich schaff, das soll geschafft seyn.‹ Gott will es also haben, das man nichts anders thun soll, denn was er gibt, Also, das es Gottis werck und ordnung sey. Darumb soll eyn Bischoff nichts thun, er sey denn gewiss, das es Gott thut, das es Gottis wort odder werck sey. Und das darumb, denn Gott will nicht, das mans fur gauckelspiel halte, was er mit der Christlichen kirchen thut.«
In heutigem Deutsch: Wer da regiert in der Christlichen Kirche und ein Amt oder einen Dienst hat, die Seelen zu versorgen, der soll nicht fahren, wie er will, und sagen: Ich bin ein Ober-Herr, man muss mir gehorchen; was ich schaffe, das soll geschafft sein. Gott will es also haben, dass man nichts anders tun soll, denn was er gibt, also, dass es Gottes Werk und Ordnung sei. Darum soll ein Bischof nichts tun, er sei denn gewiss, dass es Gott tut, dass es Gottes Wort oder Werk sei. Und das darum, denn Gott will nicht, dass man’s für Gaukelspiel halte, was er mit der Christlichen Kirche tut.
Eine knappe Zusammenfassung und nochmals O-Ton Martin Luther
Luther hat das Kirchenverständnis wieder vom Kopf auf die Füße gestellt. Die Kirche ist nicht eine irdische, sichtbare Großorganisation, hierarchisch geordnet, in der kirchliche Vorgesetzte, die »Über-Herren«, ihre Weisungen nach unten durchgeben und die Macht haben, deren Befolgung zu kontrollieren, deren Nichtbefolgung zu sanktionieren. Die Kirche Jesu Christi ist vielmehr die Kirche des Wortes. In ihrem Zentrum steht das Evangelium von Jesus Christus: die rettende, tröstende, richtende, zurechtbringende Anrede Gottes an den in seiner Sünde gefangenen Menschen.
Daher gehören die Wortämter in dieser Kirche an die erste Stelle. Ohne Prediger, Lehrer, Seelsorger – und ich füge hinzu: ohne Kirchenmusiker – kann eine evangelische Kirche nicht sein. Weil das Wort Gottes allein die Macht hat, in die Herzen der Menschen einzudringen und Glauben zu wecken, daher ist es nötig, dass überall dort, wo Christen leben – also nicht nur in den Zentren, sondern gerade auch in den ländlichen Gebieten – zum Wortdienst berufene Menschen da sind, die die Gemeinde unter das Wort Gottes sammeln und zur Antwort des Glaubens einladen.
Eine auf das Evangelium ausgerichtete Kirche lässt Raum für das Wirken des lebendigen Gottes und seines heiligenden Geistes. Die Hybris, dass wir selber es sind, die die Kirche in die Zukunft hinein erhalten und wachsen lassen und dass wir dies mit den entsprechenden Zielvorgaben, Planungen und Steuerungsinstrumenten auch tun können, führt in die Selbstzerstörung. Denn sie klammert Gott aus. Eine Kirche, die darum weiß, dass sie auf das Wirken des lebendigen Gottes und seines heiligen Geistes angewiesen ist, kann daher nur eine demütige Kirche sein.
So möge dieser Artikel mit den letzten Worten der am Anfang zitierten Vorrede Luthers schließen:
»In Summa, wir sind nichts, Christus allein ist alles. Wenn der sein Angesicht abwendet, gehen wir zugrunde und der Satan triumphiert, auch wenn wir Heilige, wenn wir Petrus und Paulus wären. Daher wollen wir unsere Seelen unter die gewaltige Hand Gottes demütigen, damit er uns zu seiner Zeit erhöhe. Denn Gott widersteht den Hoffärtigen, aber den Demütigen gibt er Gnade (1. Petr. 5, 5f.). Wie nun vor Gott ein geängsteter Geist ein Opfer ist (Ps. 51, 19), so ist ohne Zweifel ein halsstarriger und selbstsicherer Geist ein Opfer des Teufels. Gehab dich wohl in dem Herrn, und wenn du es nötig hast, bessere dich durch meine Arbeit und mein Beispiel.«
Aus: Prof. i.R. Dr.Gisela Kittel, „Luthers reformatorische Entdeckung und ihre Folgen für das evangelische Kirchenverständnis – Ohne Predigt des Evangeliums kann keine evangelische Kirche sein.“ (Deutsches Pfarrerblatt, Heft 11, 2017, S. 624ff.)
Lesen Sie hier den ganzen Artikel: http://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/index.php?a=show&id=4395
Lesen Sie auch das Buch von Gisela Kittel u.a.: Kirche der Reformation – Erfahrungen mit dem Reformprozess und die Notwendigkeit der Umkehr