Kirchliche Handlungsräume oder Gemeinde Jesu Christi? Eine missverstandene Formel und das Zeugnis des Neuen Testaments

Inmitten der sich wandelnden Welt, in der auch die Kirche lebt, soll sie sich immer wieder in Jesus Christus zurück–formen, re–formieren lassen! Und das heißt: Sie soll sich zurück in die Form bringen lassen, die Jesus Christus entspricht.

Von Prof. i.R. Dr. Gisela Kittel

Am Anfang mögen zwei Verse aus dem Römerbrief des Apostels Paulus stehen.

Röm 12,1f: „Ich ermahne euch nun, liebe Brüder (und Schwestern), durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. 2 Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“

Schlagen wir Vers 2 in der Übersetzung der Vulgata nach, so lesen wir: „Et nolite conformari huic saeculo sed reformamini in novitate sensus vestri ut probetis quae sit voluntas Dei …“

Der Anklang an die heute so gern benutzte Formel von der „ecclesia semper reformanda“ ist nicht zu überhören. Bedeutet sie wirklich, dass sich die Kirche immer neu dem Wandel der Zeit stellen soll? Muss sie sich beständig der Zeit entsprechend verändern?

Die Herkunft der besprochenen Formel ist noch immer nicht ganz geklärt. Von den Reformatoren stammt sie jedenfalls nicht![1] Wenn ich richtig informiert bin, wurde sie im reformierten Frühpietismus zu Anfang des 17. Jahrhunderts zum ersten Mal wörtlich nachgewiesen.[2] Aber der Gedanke, dass die Kirche immer wieder einer „reformatio“ bedarf, reicht viel weiter zurück, in die Reformbewegungen des Mittelalters, ja bis zu den lateinischen Kirchenvätern.[3]

Doch wie auch immer man die Herkunft der Formel bestimmen mag, klar ist, dass die Rede von der „ecclesia semper reformanda“ gerade nicht die Aufforderung beinhaltet, die Kirche möge sich immer wieder neu der Welt, ihren Strukturen und Prinzipien anpassen. Sie solle sich beständig wandeln, um mit der Zeit zu gehen.

Das Gegenteil ist gemeint!

Inmitten der sich wandelnden Welt, in der auch die Kirche lebt, soll sie sich immer wieder in Jesus Christus zurück–formen, re–formieren lassen! Und das heißt: Sie soll sich zurück in die Form bringen lassen, die Jesus Christus entspricht. So wie es der Apostel Paulus im Brief an die Gemeinden in  Galatien ausdrückt. An den Galatern irre geworden, beschwört sie der Apostel Gal 4,19: „Meine lieben Kinder, die ich abermals unter Wehen gebäre, bis Christus in euch Gestalt gewinne!“ – Röm 12,2: „Und macht euch nicht dieser Welt konform, sondern lasst euch re-formieren durch Erneuerung eures Sinnes …“

Wir befinden uns gegenwärtig in einem Umformungsprozess, wie es ihn in unserer evangelischen Kirche bisher nicht gegeben hat.[4] Da dieser Umbau inzwischen in fast allen Landeskirchen begonnen wurde und erlebt werden kann, sei er hier nicht weiter erläutert. Ich beschränke mich auf die Stichworte:

  • Regionalisierung (Verlagerung der Entscheidungsbefugnisse von der Gemeindeebene weg auf die jeweilige mittlere Ebene und deren Stärkung)[5];
  • Funktionalisierung (Abbau von Gemeindepfarrstellen zu Gunsten von Sonderpfarrstellen und funktionalen Diensten)[6];
  • Zentralisierung (Leuchtfeuer, Kompetenzzentren, Zentralgottesdienste, Gemeindefusionen, Zentrale Verwaltungsämter)[7];
  • Ökonomisierung (Neues kirchliches Finanzsystem – NKF, Doppelte Buchführung – Doppik, Substanzerhaltungspauschale, Erweiterter Solidarpakt)[8].

Lauter Prozesse, die als Kehrseite die Marginalisierung und Entmündigung der Ortsgemeinden und ihrer Kirchenvorstände zur Folge haben. Denn die örtlichen Gemeinden werden in diesen Prozessen wichtiger Entscheidungsbefugnisse beraubt (Personalhoheit, Finanzhoheit), durch das neue Kirchliche Finanzsystem arm gerechnet (wenn sie z.B. wertvolle Immobilien besitzen) und – falls sie den angelegten Kriterien nicht standhalten – zum Aufgehen in Großverbänden wie Gesamt- oder Kirchenkreisgemeinden gedrängt, um nicht zu sagen: gezwungen [9]

Noch einen Schritt weiter als bisher erlebt, geht mittlerweile die Evangelische Kirche in Bayern (die kleine braunschweigische Kirche ist schon vor ein paar Jahren vorausgegangen), die mit ihrer Synodenvorlage „Profil und Konzentration“ (PuK genannt) die bisherigen Entwicklungen noch einmal übertrumpft.[10]

Jetzt soll die Landeskirche in „Handlungsräume“ oder „Gestaltungsräume“ entsprechend den „Sozialräumen“ gegliedert werden. In ihnen sind „multiprofessionelle Teams“ mit „multiprofessionellen Kompetenzen“ als „Akteure“ tätig, um in funktional aufgeteilten Diensten von „kirchlichen Zentren“ aus das Kirchenvolk und vor allem die Kirchenfernen religiös zu erwecken und zu versorgen. Die örtlichen Gemeinden, die „Parochien“, kommen in diesem Konzept nur noch am Rande vor.[11] Auch sie sind nur „Akteure“ unter vielen anderen „Akteuren“ und haben für die am Ort „weniger Mobilen“, Senioren und Familien mit kleinen Kindern, immerhin noch einen gewissen Nutzen.[12]

Ich habe mich immer wieder gefragt und frage mich weiterhin, was eigentlich hinter diesem Umbau der evangelischen Kirche steckt?

Sind es die Sparzwänge? In der Tat war im Zuge des EKD-Impulspapiers „Kirche der Freiheit“ in allen Landeskirchen und ihren Entscheidungsgremien der große Alarmruf zu hören. Es gäbe zu den durchgeführten Streichungen von Pfarrstellen, Schließungen von Kirchen und Gemeindehäusern, Fusionierungen von Einzelgemeinden zu Großgemeinden keine Alternative! Denn die evangelische Kirche könne – so wurde warnend prognostiziert – wegen ihres Mitgliederschwundes im Jahr 2030 nur noch über die Hälfte der Steuereinnahmen verfügen, die sie im Jahr 2002 noch hatte einnehmen können. Damals betrugen die Kirchensteuereinnahmen in der gesamten EKD 4 Milliarden Euro, im Jahr 2030 würden es aber nur noch 2 Milliarden sein.[13] – Doch seit 2006 sind die Kirchensteuereinnahmen ständig gestiegen! Sie betrugen im Jahr 2016 laut EKD-Statistik 5,45 Milliarden Euro.

Daher sei die Frage noch einmal gestellt. Warum und zu welchem Zweck betreiben die EKD-Kirchen diesen radikalen Umbau? Was wird von denen, die den Prozess antreiben und leider auch durchsetzen, wirklich gewollt?

Bestimmte Formulierungen in amtlichen Papieren, ja, die Sprache dieser „Kirchenreform“, können vielleicht einen Fingerzeig geben:

So spricht etwa das Impulspapier der EKD nicht von der Zukunft der Gemeinden, um die man sich Sorgen macht – diese kommen nur in Negativzusammenhängen vor – , die Rede ist von der „Zukunft des Protestantismus in Deutschland“ und dem „Mentalitätswandel“, mit dem „der deutsche Protestantismus die Chance (habe), neue Zukunft zu gewinnen“[14]. Daher muss bei  jeder finanziellen Unterstützung die Frage überzeugend beantwortet werden, „ob es für die Zukunft des Protestantismus in Deutschland von herausregender Bedeutung sei, diese Aufgabe fortzusetzen.[15] In einem wichtigen Vortrag wird These 10 des Papiers der Berliner Kirche „begabt leben – mutig verändern“ so ausgelegt, dass wir „dann eine gesellschaftlich relevante Kirche (bleiben), wenn wir ein Konzept regionaler Vernetzung gestalten …“[16]. Oder es wird gefragt, „was unsere Kirche in Zukunft wieder ˏbemerkenswerterˊ macht“[17]. „Im Jahr 2030 ist die evangelische Kirche in der öffentlichen Wahrnehmung dadurch stark, dass sie gemeinsame Themen und Positionen vorgibt, die in die Gesellschaft hineingetragen und vertreten werden.“[18].

Vom erhofften „Ausstrahlen der Kirche“ in den gesellschaftlichen Raum hinein ist immer wieder die Rede. So soll es im Jahr 2030 „zentrale Begegnungsorte des evangelischen Glaubens“ geben, „die missionarisch-diakonisch-kulturell ausstrahlungsstark sind und angebotsorientiert in einer ganzen Region evangelische Kirche erfahrbar machen“[19]. An diesen Orten zeigt dann die evangelische Kirche „die Fülle ihrer geistlichen Kraft“[20]. Wir müssen von Zeit zu Zeit neu schauen, ob „unsere kirchlichen Verhältnisse mit ihren gewachsenen Strukturen, mit der Art, wie Gemeinde gelebt, das Ehrenamt positioniert, wie das Pfarramt verstanden wird…“, ob das alles noch so passt, „dass wir eine gewisse Ausstrahlungskraft in unsere Gesellschaft hinein“ [21] besitzen. „Kasualien als wichtige Kontaktpunkte der Kirche mit Kirchenmitgliedern und Nichtmitgliedern sind professionell und qualitativ so weiterzuentwickeln, dass ihre geistliche Attraktivität gesteigert wird“[22]. …

Was ist das für eine Kirche, die so fragt und redet und dann auch handelt? Sie macht in hohem Maß den Eindruck einer „außengeleiteten“ Kirche. Nicht, „was Gottes Wille ist“ Röm 12,2, scheint im Vordergrund der Überlegungen und Planungen zu stehen, sondern wie sie sich selbst zu einer öffentlichen Größe machen kann, die gesellschaftliche Anerkennung, öffentliche Wahrnehmung und Bedeutung erlangt und so ihre Zukunft sichert.[23]

Doch wird eine solche Kirche auch in den Augen Gottes eine Zukunft haben? Wird sie, derart auf sich selbst ausgerichtet, Menschen zu Jesus Christus führen und, wie behauptet, missionarisch wirken können? Ja, ist sie selber noch die Gemeinde des Gekreuzigten, bereit, zu ihm aus dem Lager hinauszugehen, um seine Schmach zu tragen? (Hebr 13,13)

Auch wenn es heute vielfach heißt, dass wir liebgewordene Traditionen verabschieden und unsere Gemeindebilder verändern müssen, soll hier doch noch einmal in das Neue Testament zurückgeblickt und an die Aussagen und starken Metaphern erinnert werden, in denen die neutestamentlichen Zeugen von der Gemeinde Jesu Christi sprechen.

Es gibt, wie wir wissen, im neutestamentlichen Sprachgebrauch keinen Unterschied zwischen den Begriffen „Kirche“ und „Gemeinde“. Die Kirche ist die Gemeinde. Beide werden mit dem einen Wort „ekklesia“ bezeichnet, das im profanen Gebrauch schlicht die „Versammlung“, die „Volksversammlung“ bedeutet und im christlichen Kontext u.a. durch den Genitiv „Gottes“ näher bestimmt wird. Die „Ekklesia Gottes“ ist die Versammlung der durch Gott bzw. Jesus Christus in seinen Dienst berufenen Menschen. Und diese Ekklesia wird, obwohl es sie in ökumenischer Weite gibt, doch sichtbar und konkret an ganz bestimmten Orten, in den örtlichen Gemeinden, auch in Versammlungen in einzelnen Häusern. So schreibt der Apostel Paulus z.B. die Korintherbriefe an die Ekklesia Gottes, die in Korinth ist (1. Kor 1,2; 2.Kor 1,1), oder er lässt die Ekklesia grüßen, die im Haus von Prisca und Aquila zusammenkommt (Röm 16,5; 1. Kor 16,19). Paulus spricht aber auch von den Gemeinden, die in Judäa sind (1. Thess 2,14), oder allen Gemeinden der Heiden (Röm 16,4).

Der Sprachgebrauch im Neuen Testament schwankt zwischen Singular und Plural, wozu Karl Ludwig Schmidt in seinem Artikel im Theologischen Wörterbuch bemerkt: „Es ist nicht so, dass die  ̉ekklesía in  ̉ekklesíai zerfällt. Es ist auch nicht so, dass erst eine Addition von  ̉ekklesíai die  ̉ekklesía ergibt. Es ist vielmehr so, dass an den genannten Orten sich die  ̉ekklesía findet …“[24]

Jürgen Roloff erläutert noch ausführlicher:

„Die Ortsgemeinden repräsentieren die ekklesia Gottes, freilich nicht in der Weise, daß sie nur Ausschnitte aus einer übergreifenden empirisch gedachten Größe, einer ‚Gesamtkirche‘, wären, sondern so, daß in ihnen das Wesen der pneumatisch-christologischen Größe ‚ekklesia Gottes‘ gültig zum Ausdruck kommt. Jede einzelne Gemeinde ist in einem vollen Sinn ekklesia Gottes. Was sie als solche ausweist, ist nicht ihre Anteilhabe an einer ‚Gesamtkirche‘, sondern ihr Sich-Versammeln ‚in Christus‘, d.h. als Bereich des durch den Geist gegenwärtig wirksamen Christus.“[25]

Für diese Ekklesia Gottes, die in jeder einzelnen Gemeinde gegenwärtig ist, wie wenige oder viele in ihr auch zusammenkommen, hält das Neue Testament verschiedene aussagestarke Bilder bereit:

Sie ist nach Paulus der „Leib Jesu Christi“, eine Gemeinschaft von Menschen, die im Abendmahl an dem für uns gegebenen Leib des Herrn Anteil haben (1. Kor 10,16f) und in der Taufe in seinen Leib, in die durch ihn bewirkte Versöhnung, hineingetaucht wurden (1. Kor 12,13). So dürfen sie alle nun miteinander als „begnadete Sünder“ leben. Da ist nicht mehr Jude, Grieche, Sklave, Freier, Mann, Frau (Gal 3,28). Sie sind alle eins in Jesus Christus und untereinander Glieder, die sich gegenseitig brauchen und stützen, wie es die Glieder eines natürlichen Leibes tun (1. Kor 12,12-27; Röm 12,4+5). Wahrhaftig, ein Kontrastmodell zur zerrissenen antiken Gesellschaft, aber ein Modell, das ganz konkret in der Ekklesia eines Ortes gelebt wird!

Ein anderes Bild für die Ekklesia Gottes ist der Tempel. Nicht mehr der Tempel in Jerusalem oder heidnische Tempelgebäude in einer antiken Stadt sind Begegnungsorte mit dem Heiligen. Die Ekklesia Gottes, die Gemeinschaft der Heiligen, ist der „Tempel des lebendigen Gottes“ (2. Kor 6,16), ein geistliches Haus, aus lebendigen Steinen erbaut (1. Petr 2,4-8), von  Gottes Geist durchdrungen (1. Kor 3,16f) und auf dem Eckstein, Jesus Christus, gegründet (Eph 2,20-22).

Im ersten Petrusbrief (1. Petr 1,17; 2,11) findet sich das Bild der „paroikia“, der „Parochie“. Der Begriff bezeichnet das Leben der Christen, die in dieser Welt als „Beisassen“, als Fremdlinge wohnen und deren Erbe im Himmel aufbewahrt ist (1. Petr 1,4).

Und da ist das „wandernde Gottesvolk“, Menschen, die zu dem in Schande „draußen vor dem Tor“ hingerichteten Jesus Christus hinausgehen, um seine Schmach zu tragen. Und die wissen: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir“ (Hebr 13,13f).

Zuletzt sei noch auf das wunderbare Bild in Jesu Abschiedsreden im Johannesevangelium verwiesen. Wer sind die Seinen? „Reben“ sind sie am Weinstock, die allein von ihm, ihrem Meister und Herrn, ihren Saft und ihre Lebenskraft erhalten und denen gesagt ist: „ohne mich könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,1-5).

All diesen Bildern und Aussagen ist eines gemeinsam: Es geht um Gemeinschaft, eine Gemeinschaft von Menschen, die zueinander gehören und die zugleich – als diese Gemeinschaft – einem anderen angehören: Jesus Christus, dessen Herrschaft über alle tödlichen Mächte und Gewalten sie schon jetzt in ihren Gottesdiensten feiern, dem sie entgegen gehen, auf den hin sie versuchen, ihr Leben auszurichten (Eph 4,15f). Es geht in diesen neutestamentlichen Aussagen um das Wesen der Kirche, nicht einfach um eine zeitbedingte Organisationsform, die man auch wechseln kann.

Daher lautet die entscheidende Frage: Hilft der gegenwärtige Umbau der evangelischen Kirche dieser Ekklesia Gottes? Hilft er unseren Gemeinden, zum „Leib Jesu Christi“ zu werden, zum „Tempel des lebendigen Gottes“, zur „Rebe“ am Weinstock, die nicht verdorrt und weggeworfen wird (Joh 15,6)? Nur dann könnten wir vielleicht auch von einer „Ausstrahlung“ sprechen, die nicht von Menschen hergestellt oder angestrebt werden kann, sondern allein von dem, der das „Licht der Welt“ ist, geschenkt wird. Nur dann könnten und dürften wir vielleicht die großen Zusagen wiederholen, die Jesus seiner Jüngergemeinde zugesprochen hat: Ihr – nicht die Kirchenorganisation, sondern die konkret und praktisch Jesus Nachfolgenden – seid das „Licht der Welt“ (Mt 5,14), weil ich euch in mein Licht gezogen habe. Ihr seid das „Salz der Erde“ (Mt 5,13), weil durch eure Gemeinschaft etwas erfahrbar wird von der Umkehrung der Maßstäbe, die sonst im Überlebenskampf auf dieser Erde gelten. Die Stadt, die  auf einem Berg liegt und in der schon jetzt die kommende Herrschaft Gottes verkündigt und gefeiert wird, kann doch nicht verborgen bleiben! (Mt 5,14)

Resümee

  • Ich hoffe auf eine demütige Kirche, die den grundlegenden Schaden unserer heutigen Kirche: unsere geistliche Armut, die Sprachlosigkeit in den Fragen des Glaubens, unsere Gottesvergessenheit, nicht überspielt mit Aufsehen erregenden Aktionen, Großkundgebungen, Schönrednerei, sondern die in kritischer Selbstbesinnung nach dem fragt, was sie selber hält und trägt.[26]
  • Ich hoffe auf eine Kirche, die wieder lernt, zu unterscheiden zwischen dem, was Gottes Sache, und dem, was uns aufgetragen ist. Wachstum und Bestand der Kirche liegen in Gottes erhaltender oder richtender Hand. „Die Zukunft ist sein Land“, wie es im so oft und gern gesungenen Lied von Klaus Peter Hertzsch (EG 395) in der dritten Strophe heißt. Wir sind an einer anderen Stelle gefordert, die der Apostel Paulus deutlich benannt hat. Gegenüber dem Vorwurf, dass sein Auftreten und seine Predigt nicht so weisheitlich und glänzend wie die des Apostels Apollos sei, erwidert er in 1. Kor 4,1f:  „Dafür halte uns jedermann: für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse. Nun fordert man nicht mehr von den Haushaltern, als dass sie für treu befunden werden.“
    Treue in Lehre und Verkündigung gegenüber dem biblischen Wort, Treue aber auch gegenüber den Menschen ist angesagt. Dass die Mitarbeiter der Gemeinde in der Nähe der Menschen bleiben, Pfarrern und Pfarrerinnen Zeit und Freiraum gegeben wird, Menschen in ihren Lebenssituationen seelsorgerlich zu begleiten, dass Gottesdiensträume nicht zugeschlossen werden, sondern überall, wo Christen leben, das Zusammenkommen zum gemeinsamen Lob, zu Fürbitte, Bibellesung und Gebet besonders am Tag des Herrn möglich ist, dass der diakonische Dienst in der Nähe der Gemeinden bleibt und nicht an überregionale Organisationen abgegeben wird, deren kirchliche Ausrichtung nicht mehr erkennbar ist – dies und vieles mehr gehört zu der Arbeit, die die Gemeinde Jesu in Treue auszurichten hat.
  • Ich hoffe auf eine Kirche, die die stille, bescheidene Arbeit vor Ort wieder wertschätzt, die nicht nur von der Freiheit – nach außen gewandt – redet oder sie für ihre eigenen Strukturveränderungen in Anspruch nimmt, sondern die auch Freiheit gibt: den Gemeinden, Kirchenvorständen, Pfarrpersonen, Mitarbeitenden, dass sie auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen und in eigener Verantwortung je an ihrem Ort ihre Arbeit tun können, ohne bedroht zu werden mit Stellenabzug, Mittelkürzungen oder gar disziplinarischen Maßnahmen, wenn sie den Weisungen aus der Mittelebene Kritik und Widerstand entgegensetzen.
  • Ich hoffe auf eine Kirche, die Konflikte menschlich austrägt, durch Anhörung aller Betroffener, Gespräch, echte Mediation, Supervision, und die dem Vorkommen von Mobbing und Willkürentscheidungen in den eigenen Reihen durch Änderung ihrer Gesetzgebung endlich einen Riegel vorschiebt.[27]
  • Ich hoffe auf eine Kirche, in der die Theologische Erklärung von Barmen nicht nur in der Präambel der Verfassung steht, sondern die auch nach diesen theologischen Erkenntnissen handelt.
    These III
    „Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern (und Schwestern), in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.
    Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen.“

[1] Die Reformatoren haben Gottes Wort ins Zentrum ihres theologischen Denkens gerückt und die Kirche als Geschöpf des Wortes Gottes gesehen. Vgl. Gisela Kittel, Ohne Predigt des Evangeliums kann keine evangelische Kirche sein, DPfBl 11/2017, 624-628.
[2] Th. Mahlmann, „Ecclesia semper reformanda“. Eine historische Aufklärung. Neue Bearbeitung, in: R. Johansson u.a. (Hg.), Hermeneutica Sacra. Studien zur Auslegung der Heiligen Schrift im 16. Und 17. Jahrhundert, Berlin/New York 2010, 381-442: 438.
[3] Emidio Campi, „Ecclesia semper reformanda“. Metamorphosen einer altehrwürdigen Formel, Zwingliana 37 (2010), 1-19, 3-6.
[4] Eine Ausnahme war der Versuch der Einführung des Führerprinzips in die evangelische Kirche durch die Deutschen Christen in den Jahren 1933/34. Damals sollte die Kirche, dem Geist der Zeit folgend, in eine Reichskirche umgeformt werden mit einem Reichsbischof an der Spitze, was zusammen mit der Einführung des „Arierparagraphen“ den Kirchenkampf ausgelöst hat.
[5] Vgl. z.B. Andreas Dreyer, „Stärkung der mittleren Ebene“. Wie sich die Hannoversche Landeskirche von ihren Kirchengemeinden distanzierte, in: G. Kittel/E.Mechels (Hg.), Kirche der Reformation? Erfahrungen mit dem Reformprozess und die Notwendigkeit der Umkehr, Göttingen 20172, 128-139; Georg Hoffmann, Umgestaltung der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) zum „Erweckungs“-Unternehmen auf der Grundlage eines reformationswidrigen Verständnisses von Gemeinde und Synode, in: Kirche der Reformation? 165-180.
[6] Vgl. Christoph Bergner, Der Triumph der funktionalen Kirche. Warum die evangelische Kirche keine Pfarrer mehr braucht, DPfBl 8/2016, 436-439; Hans-Ulrich Pschierer, Die „gärtnernde“ Kirche. Von Visionen, Humus und Dünger, in: Die mündige Gemeinde 6, 8-12 (https://www.aufbruch-gemeinde.de/?p=1386)
[7] Vgl. Manfred Alberti, „Wie das Gemeindeprinzip in der EKiR ausgehebelt wurde“, in: Kirche der Reformation? 140-161.
[8] Friedhelm Schneider, Epoche der Selbstbeschäftigung. Eine Zwischenbilanz zum kirchlichen Impulsprozess „Kirche der Freiheit“, in: Kirche der Reformation? 71-86; Hans-Jürgen Volk, Kirche – Gemeinwesen oder Großkonzern? Die bedrückende Entwicklung einer Kirche auf Gemeindebasis zum finanzorientierten Konzern, ebd. 87-101. Ders., Teure Umbauprojekte lassen die Gemeinden verarmen. http://www.zwischenrufe-diskussion.de/pages/ekir/teure-umbauprojekte-lassen-die-gemeinden-verarmen.php
[9] Vgl. Herbert Dieckmann, Plädoyer für eine kirchliche Erneuerung von unten, in: Kirche der Reformation? 216-232; Manfred Alberti, Aspekte zur Reform der Rheinischen Kirche EKiR, http://manfredalberti.de/a-10-2-reformentwicklungen-im-rheinland-vortrag-in-bremen-17-11-2017/ Vgl. auch den Beitrag unter Anm. 7.
[10] Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, Profil und Konzentration. Zeugnis geben von der Liebe des menschgewordenen Gottes, Stand: 29. März 2017.
[11] In seiner Einführungsrede betont Bischof Bedford-Strohm zwar, dass die „Räume“ die Gemeinden nicht überflüssig machen und nicht entwerten, doch die „Arbeitspakete“ weisen in eine andere Richtung.
[12] Arbeitspaket A: Kirche im Raum, 2.3.
[13] Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, 22.
[14] AaO 29.
[15] AaO 42.
[16] Bischof Dröge, Vortrag vor der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern am 19. April 2016, Teil III.
[17] Impulspapier des Moderamens der Gesamtsynode der Evangelisch-reformierten Kirche „Wir wollen eine krasse Herde bleiben“, 13.
[18] Kirche der Freiheit, 85.
[19] AaO 59.
[20] Ebenda.
[21] Ulrike Trautwein, Rundbrief Pfarrverein EKBO 1/2017, 12.
[22] Profil und Konzentration, Arbeitspaket C: Geistliche Profilierung, 4.2.
[23] Der im April 2017 verstorbene Eberhard Mechels hat in seinem Beitrag „Der Reformprozess als Strategie der Integration von Christentum, Kirche und Gesellschaft“ in: Kirche der Reformation? 335-346, die „Christentumstheorie“ als Grundkonzeption dieser Reform erhellend beschrieben.
[24] ThWNT III; 506,23ff.
[25] Jürgen Roloff, Die Kirche im Neuen Testament, NTD-Ergänzungsreihe 10, Göttingen 1993, 97.
[26] Mit Recht ist dies von Friedrich Schorlemmer und Christian Wolff in ihrem im Herbst 2017 veröffentlichten Memorandum angemahnt worden: „Reformation in der Krise. Wider die Selbsttäuschung. Ein Memorandum zum Reformationsfest 2017.“
[27] Vgl. den „Ungedeihlichkeitsparagraphen“ in den Pfarrdienstgesetzen der Landeskirchen, durch den ohne Untersuchung, ohne Schuldnachweis Pfarrpersonen und kirchliche Beamte in Wartestand und anschließenden Zwangsruhestand versetzt werden können, wenn nur von irgendeiner interessierten Seite Unruhe geschürt wird. Vgl. hierzu die Beiträge in: Kirche der Reformation? 302-328.

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